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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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ganz deutlich vor sich gesehen: Seinem Urteil gegen Agnes Imhoff würde, jetzt und für alle Zeiten, ein allgemeingültiger Charakter in Bezug auf die eheliche Haftung zukommen. Wenn er die Witwe tatsächlich zur Zahlung der Schuld verurteilte und wenn sich diese strenge Haltung durchsetzte, dann profitierten am Ende auch der Kaiser und die übrigen europäischen Königshäuser von diesem neuen, gültigen Recht.
    Von seinem Recht und von seinem Urteilsspruch. Von der
Lex Hauser
.
    Denn die immer häufiger praktizierte Unsitte, Vermögen an die Ehefrau zu übertragen, um der Haftung zu entgehen, hatte die Außenstände an den Höfen in Wien, London oder Madrid wohl in unvorstellbare Höhen getrieben. Das Recht so zu verändern, dass Ehefrauen in vollem Umfang haftbar gemacht werden konnten, wenn man ihnen die Geschäftsfähigkeit zusprach, hieße, dass man diese Gelder in Zukunft eintreiben, wenigstens jedoch Ansprüche anmelden könnte.
    Deshalb also hatte der Kaiser geschrieben. Und deshalb versprach er in seinem Brief auch, sich dem Richter erkenntlich zu zeigen.
    War das Rechtsbeugung? Unwillkürlich schüttelte Hauser den Kopf. Er war der Meinung, dass man das alte, viel zu nachlässige Recht an die Widrigkeiten der Zeit anpassen musste. Dass man ein Opfer bringen musste, um das große Ganze nicht in Gefahr zu bringen. Und dieses Opfer hieß Agnes Imhoff.
    Die schöne Agnes Imhoff.
Nachdenklich zog der Richter den Schuldschein aus den Akten hervor. Die Unterschrift der Witwe, geschwungene, leicht nach rechts geneigte Buchstaben, war deutlich zu erkennen. Die Schrift einer gebildeten und selbstbewussten Frau. Eines Weibsstücks, das wusste, was es tat.
    Magister Mathis von Homburg hatte noch am ersten Prozesstag darauf gedrungen, dass seine Mandantin keine Geschäftsfrau und ihre Unterschrift folglich nicht gültig sei. Doch schnell hatte sich herausgestellt, dass die Tuchhändlerwitwe sehr wohl in die Geschäfte ihres Mannes mit einbezogen war. So holte sie etwa die Pacht der Imhoff’schen Gaststätte ein. Sie tätigte Geschäfte, Geldgeschäfte.
    Hauser lehnte sich zurück, in der linken Hand hielt er den kaiserlichen Brief und den Imhoff’schen Schuldschein, in der rechten das Gutachten. Versonnen blickte er auf die Dokumente.
    Zu welcher Seite neigte sich Justitias Waage?
    In Gedanken sah der Richter das Gesicht der Tuchhändlerwitwe vor sich. Er versuchte, ihre einst so stolze Miene in die Reihe der Beklagten einzuordnen, die bereits vor seinem Richterpult gestanden hatten. War das Hochmut? Oder war das Angst? Die Furcht vor dem Verlust aller Besitztümer, vor dem Fall in bittere Armut?
    Es klopfte, und noch bevor Hauser antworten konnte, streckte Mathis von Homburg seinen mausgrauen Kopf durch die Tür.
    »Kann ich einen Moment hereinkommen, Richter?«
    Hauser nickte unwirsch und stopfte schnell den kaiserlichen Brief unter dem Tisch zwischen Paltrock und Hose, während von Homburg vor ihn trat.
    Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an und maßen sich mit Blicken. Dann tat der Anwalt den ersten Schritt.
    »Es wird sich nun wohl niemand mehr wundern, wenn Ihr ein Exempel an meiner Mandantin statuiert«, sagte er, wobei er nervös an seinen Lesegläsern herumfingerte.
    Hauser nickte. Der Mann war ihm lästig, er wollte nicht, dass die Schöffen von seiner Absprache mit dem Advokaten erfuhren. »Ja, ich werde den Prozess rasch beenden. Der letzte Auftritt Eurer Mandantin hat ihren Stand vor Gericht nicht eben verbessert.«
    Von Homburg seufzte, er machte Anstalten zu gehen, doch an der Tür drehte er sich noch einmal um. »Es ist eine Tragödie«, murmelte er, so leise, dass Hauser ihn kaum verstand.
    »Wie meinen?«
    Der Anwalt sah auf, aber er sah ihn nicht an. Jetzt hielt er seinem Blick nicht mehr stand. Erneut dachte Hauser, dass von Homburg ihm zuwider war. Er verabscheute dessen Charakter – dieses Kriecherische, Niedere, das Wendige und Zuckende, das einer Ratte näher war als einem Menschen. Er war nicht überrascht gewesen, als man ihm zugeflüstert hatte, dass auch von Homburg mit Luthers widerlichen Thesen liebäugelte.
    »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr schon heute über den Fall beratet, bevor meine Mandantin überhaupt ihre Aussage machen konnte!«
    Hauser schüttelte den Kopf. Rührte sich etwa von Homburgs Gewissen?
    Er stemmte sich aus seinem Lehnstuhl, trat um den Schreibtisch herum und ging auf den Anwalt zu. »Ihr denkt doch noch an unsere Unterredung, mein lieber
Advocatus

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