Die vierte Zeugin
Titel:
Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg
– gutgläubig und unerfahren. Doch über die Jahre hatte sich sein Verhältnis zu dieser schönen Jungfrau verändert. Hauser liebte ihre Gesetze und Paragraphen noch immer – so wie ein Vater seine Kinder. Er schätzte ihren Charakter, sah, was im besten Falle möglich war, erkannte aber auch Justitias Fehler und Mängel.
Die Erfahrung hatte ihn hart werden lassen
.
In seinem Amt hatte er zu viel erlebt, als dass er noch auf die läuternde Kraft von Milde und Güte vertraute. Wie viele Fälle von Raub, Kindsmord, Totschlag, Beleidigung, Fälschung, Bettelei und anderen Delikten waren am Hohen Gericht unter seinem Vorsitz schon verhandelt worden? Vor seinem inneren Auge marschierte die unendliche Reihe der Beklagten auf. Die Kerkerräume im Frankenturm und in der Trankgassenpforte waren stets gefüllt. Und jeden Tag, den Gott der Herr werden ließ, fischten die Büttel des Stadtvogtes noch mehr Abschaum aus den Gossen der Stadt.
Hauser legte den Kopf in den Nacken und fixierte die Waage, die in Sandstein gehauen war. Er kannte die Mienen der Beklagten, den Hochmut des Betrügers, den Stumpfsinn des Bettlers, die Angst und Verzweiflung der Kindsmörderin. Und über alle diese Sünder und Schuldigen hatte er ein Urteil gesprochen, das vor Gottes Letztem Gericht Bestand haben würde. Mörder und politische Verbrecher hatte er auf dem Heumarkt hinrichten lassen, die Prangerstrafe setzte es für Betrüger und Fälscher sowie bei Unzucht und Kuppelei. Beutelschneider verloren einen Finger oder gleich die ganze Hand auf dem Richtblock.
Hauser schüttelte unwillkürlich den Kopf. Er trat einen Schritt zurück, um das Patrizierhaus, dessen Fassade wie ein Schiffsbug aus den Nebelschleiern hervorragte, in seinen vollkommenen Proportionen erfassen zu können. Die Welt war in Unordnung geraten, daran bestand kein Zweifel. Luthers Reformation und das daraus resultierende Chaos der Kirchenspaltung hatten der Sünde und den Versuchungen des Teufels Tür und Tor geöffnet. Es war ein Kampf, jeden Tag aufs Neue. Denn auch in Köln gab es Anhänger dieses ketzerischen Glaubens.
Der Richter ballte die Fäuste und straffte die Schultern. Sein runder Bauch wölbte sich gegen Paltrock und Mantel. Er war immer noch hungrig. Ungeduldig fischte er nach dem zweiten Zopf in seiner Tasche.
»Ein schönes Haus, mein Herr.«
Mein Herr?
Hauser zuckte zusammen. Die Empörung ließ seine Gedanken Salti schlagen. Wer wagte es, das Richteramt – sein Richteramt – zu missachten? Ärgerlich fuhr er herum.
Der Junge sah ihn lächelnd an. Er war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt und schön wie ein Engel. Glänzendes, fast goldenes Haar fiel ihm unter dem veilchenblauen Barett bis auf die Schultern, dichte Wimpern beschirmten mandelförmige Augen, rosige Wangen und ein praller Mund zierten das Gesicht. Und auch der Körper des Jünglings, schlank und fest, entsprach allen Gesetzen der Ästhetik. Sanft zeichneten die Muskelstränge sich unter den eng anliegenden Hosenbeinen des Fremden ab.
»In der Tat«, murmelte Hauser und räusperte sich. Plötzlich war sein Mund trocken. Er musste an eines der himmlischen Wesen auf dem Altarbild des Doms denken, welche die Schönheit des Paradieses darstellten.
»Ist es Eures, mein Herr?«
Noch nicht.
Hauser schüttelte den Kopf. Er wollte weiter gehen, doch etwas hielt ihn zurück. Noch einmal musterte er den Jungen. Er war fast sicher, dass sich das Böse niemals in das Antlitz des Schönen verirren könnte.
Der Jüngling bemerkte seinen Blick und kam noch einen Schritt auf ihn zu. Ein Lächeln kräuselte seine Lippen und entblößte elfenbeinfarbene Zähne. »Gabriel«, sagte er und verbeugte sich. »Gabriel, der Flötenspieler.«
Tatsächlich, jetzt sah Hauser das Instrument, das im Gürtel des Jungen steckte. Er lächelte, nun schon etwas milder gestimmt. »Und ich bin Hieronymus Hauser«, stellte er sich vor. »Doktor Hieronymus Hauser, Richter am Hohen Gericht.«
»Dann verhandelt Ihr also jenen Fall?« Neugier und ein Anflug von Respekt spiegelten sich im Gesicht des Jungen. Die Augen, blank wie Rheinkiesel, funkelten.
Der Fall.
Die Stadt sprach von nichts anderem mehr. Selbst das fahrende Volk, die Pilger, Schausteller und Musikanten, die auf dem Weg in den Süden waren, mutmaßten über die Schuld der schönen Agnes Imhoff.
»Man erwartet mich im Gericht«, murmelte Hauser und wandte sich zum Gehen. Er durfte nicht über den Prozess sprechen.
Doch der Flötenspieler ließ sich
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