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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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Elisabeth Hauser, Betty genannt, wusste, dass ihr Mann erst nach einem Becher verdünnten Weins in der Stimmung sein würde, mit ihr zu sprechen, und wies den alten Diener an, ihm diesen zu bringen.

    Es schlug sieben, als der Richter das Haus am Mühlenbach verließ. Hieronymus Hauser liebte den morgendlichen Fußmarsch hinunter zum Dom, wo sich das Hohe Ratsgericht befand. Nun war er in Fahrt, der Morgenwein schlug launig Wellen in seinem Magen. Selbst der kalte Novembernebel, der vom Fluss her durch die Straßen wallte und ihn mit seinen Geisterhänden streifte, schaffte es nicht, ihm die Laune zu verderben.
    Die Sitzung …
Die Schöffen erwarteten Hauser im Gericht. Heute würde er sich noch einmal mit den Beisitzern beraten. Dann wäre die Zeit des Zweifelns vorbei.
    Hauser rieb sich die Hände. Pfeifend eilte er durch die Gassen und grüßte jovial nach links und rechts, wo Burschen und Mägde sich verneigten. Wie ein kostbarer Pelz umhüllte ihn die Macht seines Amtes. Kleine Dampfwölkchen, die er beim Atmen keuchend ausstieß, begleiteten seinen Weg.
    »Guten Morgen,
Kardinal
.« Bäckermeister Gründel aus der Rheingasse rupfte sich die Kappe vom Kopf und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
    Dieser Halunke …
Hauser warf dem Zunftmeister einen scharfen Blick zu. »Lass das Geschwätz, Gründel!«, brummte er. Auch wenn der Beiname dem Richter schmeichelte, schätzte er es nicht, wenn man ihn tatsächlich so nannte. Hoffart war sündhaft, und so mancher war über Hochmut und Dünkel zu Fall gekommen.
    »Aber …« Der Zunftmeister setzte zu einer Antwort an, besann sich jedoch eines Besseren. Beleidigt klappte er sein Karpfenmaul wieder zu.
    Kardinal.
Hauser nickte beifällig. Sein scharfer Verstand und das lebhafte Temperament, das die Kölner wohl an seinen Namenspatron, den Kirchenvater, erinnerte, hatten ihm den Ehrennamen eingetragen. Lächelnd blickte er auf seinen Siegelring, der den kirchlichen Insignien auffällig ähnelte. Gekreuzte Schlüssel und ein Doppeladler waren in das Gold geprägt – das Sinnbild der päpstlichen und kaiserlichen Gewalt, des kirchlichen und weltlichen Rechts. Doch bis hinauf in eines der hohen Kirchenämter hatte es nicht gereicht. Das Karmesinrot der Kardinalssoutane war kostspielig – und unerschwinglich für den Emporkömmling aus einer zwar wohlhabenden, aber gänzlich unbedeutenden Familie von Weinbauern.
    So hatte Hauser es über die Jahre lediglich auf ein respektables, doch nicht allzu üppiges Richtersalär gebracht, das die Kosten seines aufwändigen Lebensstils nicht zu decken vermochte.
    Er seufzte auf. An ein größeres Haus war lange Zeit nicht zu denken gewesen.
    Doch nun … Hatte sich nicht alles verändert?
    An Gründel vorbei schob er sich in die warme Backstube, wo man ihm zwei mächtige, süße Zöpfe reichte. Einen steckte er ein, in den anderen biss er gierig.
    Ein göttliches Zeug! Wie Ambrosia umschmeichelte der honigsüße Guss seinen Gaumen. Er schnalzte anerkennend, leckte an den klebrigen Fingern, dankte und war schon wieder auf der Straße. Bezahlen musste er nicht. Die Kölner wussten, was sie dem Richter schuldig waren.
    Am Neumarkt kaute Hauser immer noch mit vollen Backen. Atemlos blieb er stehen, sein Blick streifte das alte Patrizierhaus, das zwischen den kahlen Baumreihen und jüngeren Bauten der Kaufleute und Handwerker hervorstach. Das prächtige Gebäude stand seit einiger Zeit leer und wartete auf einen Käufer. Der Richter spürte das Ziehen der Begierde in seinem Magen. Lange hatte er gezögert, doch nun trug er den Schlüssel bei sich. Nach der Sitzung wollte er das Haus besichtigen.
    Hauser kniff die Augen zusammen und folgte den aufstrebenden Vertikalen der Fassade. Kein Zweifel, dies war ein wunderbares Haus – groß, stattlich, solide und seines Amtes würdig. Ein Treppengiebel krönte das Mauerwerk, und ganz oben, so dass man es fast nicht sehen konnte, war das Relief einer Waage eingelassen.
    Justitias Waage. Irgendwann – vielleicht in einem anderen Leben – war Justitia seine Geliebte gewesen. Hauser erinnerte sich, dass er ihre Reinheit geliebt hatte, die strenge Schönheit ihrer Gesetze, das wunderbare Gleichgewicht von Schuld und Sühne, von weltlicher Gerechtigkeit und göttlicher Strafe. Er hatte geglaubt, dass Recht, Moral und Sitte einander bedingten. Und dass gemeines wie kirchliches Recht die Schönheit und Harmonie der Welt vor Chaos und Zerstörung bewahren könnten.
    Damals war er jung gewesen

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