Die vierte Zeugin
Titel:
Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg
Monaten erleben müssen? All das Unglück, das ihr gemeinsames Leben hinwegzufegen drohte, wie ein Sturm im Sommer, der ohne Rücksicht auf Hunger die Ernte vernichtet.
Seit Andreas’ Tod war nichts mehr, wie es einmal gewesen war. Und doch – ihren Vater vermisste Sophie wohl nicht. Wie auch? Er hatte für das Kind zu Lebzeiten kaum ein gutes Wort übrig gehabt. Das Mädchen war ihm schlichtweg gleichgültig gewesen, und nicht das erste Mal dachte Agnes darüber nach, ob ihre Ehe und damit ihr Schicksal anders verlaufen wären, wenn sie ihrem Mann anstelle der Tochter den heiß ersehnten Sohn geschenkt hätte.
Andreas hatte sich so sehr auf einen männlichen Erben gefreut, jemanden, der ihm ähnlich gewesen wäre und dem er später sein Geschäft hätte vermachen können. Jemanden, der ihm die Zukunft und das Alter gesichert hätte. Doch Gott hatte anders entschieden und ihnen weitere Kinder verwehrt.
Trübes Licht fiel durch das einzige Fenster, und während sich Agnes das lange, braune Haar auskämmte, das ihr bis weit über die Schultern reichte, verfolgte ihr Blick die Regentropfen, die an den Butzenscheiben herunterrannen. Nach einer Weile erschienen sie ihr wie die vielen ungeweinten Tränen, die sie seit Wochen zurückgehalten hatte.
Am heutigen Tage würde der Richter sein Urteil fällen. Zuvor aber war sie als vierte Zeugin zu einer abschließenden Aussage geladen.
»Der Angeklagte hat immer das letzte Wort«, hatte ihr Augustin von Küffen erklärt. Ihm vertraute sie inzwischen weit mehr als ihrem Advokaten Mathis von Homburg, der seinen jungen Assistenten ohne Gnade entlassen hatte, nur weil dieser sich vor Gericht für sie eingesetzt hatte.
Der Gedanke, dass ihr und Sophies gemeinsames Schicksal nunmehr von einer einzigen Aussage abhing – nämlich ihrer eigenen –, machte sie halb wahnsinnig vor Angst.
Sie fröstelte, wenn sie daran dachte, zu welchen Taten die Not sie getrieben hatte.
Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie sie zu später Stunde Clewin im Haus der zwielichtigen Else aufgesucht hatte. Damals hatte Andreas noch gelebt, und es war ihr wie ein Höllenritt erschienen, als sie sich während seiner Abwesenheit bei Nacht und Nebel durch die Gassen von Köln geschlichen und mit zitternder Hand an Clewins Kammer geklopft hatte.
Kaum hatte der alte Seebär die Tür einen Spalt weit geöffnet, war ihr der Geruch von Moder und abgestandenem Schweiß entgegengeschlagen. Misstrauisch hatte der einäugige Mann sein verbliebenes Auge auf sie gerichtet, wie ein furchterregender Zyklop, der seine Beute fixiert. Erst als er sie im Schein der Tranfunzel erkannt hatte, hatten sich seine wettergegerbten Gesichtszüge ein wenig entspannt …
»Darf ich eintreten?«, fragte Agnes unsicher und warf über die Schultern des Seemanns hinweg einen flüchtigen Blick in die einfach ausgestattete Stube.
»Weiß Euer Mann, dass Ihr hier seid?«, polterte er ungehalten und rümpfte dabei seine Nase, die von Pockennarben und vom Suff verunstaltet war.
»Was kümmert’s dich? Ich bin hier, um die Wahrheit über meinen Mann und seine Geschäfte zu erfahren«, erwiderte sie mit bebender Stimme. »Und von der Ursel weiß ich, dass du mir möglicherweise dabei helfen kannst.«
Bei diesen Worten ging ein Ruck durch Clewins gedrungene Gestalt. »Nicht hier draußen«, zischte er ärgerlich. »Kommt rein, sonst hört oder sieht uns womöglich noch jemand.«
Agnes verspürte ein ungutes Gefühl im Bauch, als sie die Kammer betrat und Clewin die Tür hinter ihr verschloss. Trotzdem nahm sie ihren Mut zusammen, um ihm die alles entscheidenden Fragen zu stellen.
»Ich will, dass du hier und jetzt das wiederholst, was du der Ursel im
Kleinen Ochsen
erzählt hast. Hast du die wertvolle Ware des Engländers im Auftrag meines Mannes gegen schlechtes Tuch ausgetauscht und dieses dann mit Brackwasser übergossen? Oder soll ich Andreas direkt darauf ansprechen? Er wird nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass du in den Schenken der Stadt deinen Mund nicht halten kannst.«
Clewin war anzumerken, dass er sich wegen seiner Redseligkeit innerlich verfluchte. Seine Miene war düster, und für einen Moment vermittelte er den Eindruck, als spielte er mit dem Gedanken, sie aus seiner Kammer hinauszuwerfen. Doch dann straffte er sich und sah sie auffordernd an. »Und was bekomm’ ich dafür, oder denkt Ihr, ich riskiere ohne Gegenleistung den Zorn Eures Gatten?«
»Was verlangst du?«, fragte sie forsch.
»Eine
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