Die vierte Zeugin
Titel:
Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg
sehr groß. Auf drei Stockwerken lagen jeweils vier Fenster nebeneinander, und das dunkle Fachwerk war mit kostbaren Schnitzereien geschmückt, die vom Reichtum seiner Bewohner zeugten. Wie zum Hohn prangte über dem Eingangsportal Justitia und hielt mit verbundenen Augen die Waage der unvoreingenommenen Gerechtigkeit am Arm weit von sich gestreckt. Gerade verscheuchte eine Magd ein paar Bettler, die sich am Hauseingang um ein Almosen stritten. Wann hatte der Richter den Kauf getätigt? »Es muss etwa zwanzig Jahre her sein, schätze ich …«, dachte sie laut.
Augustin nickte grimmig, als bestätigte sie damit seinen unausgesprochenen Verdacht. »Ich frage mich, ob das mit rechten Dingen zugegangen ist. Es würde zumindest einige der Ereignisse um den Prozess erklären. Wenn man beweisen könnte …«
Der Schluss, der daraus zu ziehen war, stimmte Sophie ärgerlich. Sie erinnerte sich an die Tage der Unsicherheit und des Leids, die ihre Mutter Agnes von einer angesehenen Kaufmannsfrau zu einer armen Kirchenmaus gemacht hatten, die man mit Schimpf und Schande aus dem Haus gejagt hatte. Das war die dunkelste Zeit in Sophies Leben gewesen. »Das möchte ich nur allzu gerne, Augustin, aber zum einen kann ich deine Dienste nicht bezahlen und zum anderen glaube ich nicht mehr an Gerechtigkeit.« Sie raffte den Schal enger um die Schultern, denn nun fröstelte sie trotz der Mittagssonne erneut.
Unvermittelt traten ihr Tränen in die Augen. Alle Erinnerungen, die längst vergraben gewesen schienen, brachen mit Urgewalt plötzlich wieder hervor. Augustin sollte sie nicht so sehen. Nicht er. Hastig drängte sie sich an ihm vorbei und eilte die Straße hinauf.
»Sophie!«, hörte sie ihn noch rufen, doch sie ignorierte ihn.
»Sophie!«
Vorbei an der fünfschiffigen Basilika von Sankt Kolumba, die stolz und schön über den Dächern aufragte, machte sie sich auf den Heimweg, den Berlich hinauf, wo selbst jetzt, zur Mittagsstunde, Dirnen und Bettler in den Seitengassen herumlungerten. Die imposanten Steinhäuser wichen nach und nach billigem Fachwerk, das mit jedem Gebäude kleiner und krummer wurde.
Zuhause angekommen zog Sophie schnell die Tür auf und sperrte sie hinter sich wieder zu, als könnte sie damit die Erinnerungen draußen lassen. Als sie sich entspannte, stellte sie fest, wie sehr sie die Hand um die Münze geklammert hielt. Die Ränder hatten sich bereits schmerzhaft in ihre Haut gegraben. Sie legte sich das Lederband wieder um den Hals und berührte das warme Metall. Vielleicht hatte Augustin Recht. Vielleicht sollte sie die Justitia wirklich gegen die Laute aus Birkenholz tauschen, die Hoffmann an seinem Stand für sie zurückhielt.
Zwei Stunden später sortierte Sophie die Bronzespiegel der Größe nach, denn sie wollte die kleineren ein wenig günstiger anbieten. Kaum einer überragte ihre Handfläche, manche waren auf der Rückseite punziert. Sie hoffte, vielleicht ein oder zwei Stücke an die jungen Hübschlerinnen verkaufen zu können, die den Männern auf dem Berlich ihre Dienste anboten.
Sie vermisste den stillen und in sich ruhenden Goddert noch immer. »Sophie«, hatte ihr Mann immer gesagt, »in diesem Geschäft darf man nicht seiner Nase folgen. Man muss zählen, rechnen und planen.«
Genau das hatte sie seit seinem Tod versucht, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass er dieses Handwerk offenbar besser beherrscht hatte als sie. Denn auch wenn sie ihr Brot recht zuverlässig verdiente, so musste Sophie doch jede Woche darum bangen, ob sie das Geld für das kleine Geschäft würde aufbringen können.
Seufzend legte sie den letzten Spiegel aus der Hand und blickte aus dem offenen Fenster auf die kleine Kreuzung zur Breiten Straße hinaus. Dort tummelten sich jetzt, am Nachmittag, Kinder, Frauen und Männer. Fuhrwerke ratterten vorbei, Hunde bellten, und der alte Hubert zog ächzend seinen Handkarren und grüßte mit einem Winken. Sie hob die Rechte und lächelte, wie sie es immer tat. Doch ihr war nicht fröhlich zumute.
Jetzt, da sie zur Ruhe gekommen war, fragte sie sich, ob sie richtig gehandelt hatte, Augustin von Küffen auf dem Markt einfach stehen zu lassen. Nicht nur war es unhöflich gegenüber einem angesehenen Mann, es war auch unrecht gegenüber einem alten … Freund? Gönner? Sie wusste nicht, was er für sie war, nur, dass sie als Mädchen immer zu Augustin aufgeblickt hatte. Sie hatte noch lebhaft vor Augen, wie er mit seinem modischen Wams und dem schicken Barett
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