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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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hitzige Reden gehalten hatte. Sie hatte ihn bewundert. Tat sie es noch? Warum war sie davongelaufen? Nur aus Scham? Jetzt ärgerte sie sich über sich selbst und ihr kindliches Verhalten. In einem Gespräch hätte sie vielleicht mehr über jene Unregelmäßigkeiten beim damaligen Prozess erfahren können, von denen er gesprochen hatte. Hatte man ihrer Mutter die
Wolkenburg
zu Unrecht entrissen? Die
Wolkenburg,
wo die Mutter unter dem Vater so gelitten und trotzdem lange zu ihm gestanden hatte. Agnes waren in Sophies Erinnerung nur harsche Worte und Gewalt widerfahren. Wann immer der Vater die Mutter geschlagen hatte, war Sophie auf den Dachboden geflohen. Oft war die liebe Stingin gekommen, um sie in den Arm zu nehmen und Lieder mit ihr zu singen, damit sie nicht wach lag und darauf horchte, was der Vater der Mutter antat – und damit sie nicht überlegte, ob Agnes wohl noch am Leben sein würde, sobald Sophie die Treppe hinabschlich, um nach ihr zu schauen. Bis zu jenem Tag, an dem er sie beide in den fensterlosen Keller gesperrt hatte.
    Sophie erschauerte noch heute bei der Erinnerung an diesen furchtbaren Abend. Die Wut des Vaters war ihr nach wie vor sehr gegenwärtig, seine Vorwürfe gegen die Mutter auch. Was hatte er noch gerufen? »Du hast dich ihm verkauft, du Hure!« Die Mutter hatte geweint, hatte ihn angefleht, sie, die Tochter, zu schonen. Trotzdem hatte er die Tür geschlossen und sie beide in vollständiger Dunkelheit zurückgelassen. Das Vorlegen des Riegels hatte wie ein zufallender Sargdeckel geklungen.
    Die Schwärze hatte Sophie damals am meisten erschreckt – und der furchtsame Tonfall der Mutter, die versucht hatte, sie mit Worten zu beruhigen, und doch das Gegenteil bewirkt hatte. »Setz dich auf den Boden und halt still«, hatte die Mutter gesagt. Sophie hatte gehorcht und das Lied vom Esel gesummt, das Stingin auf dem Dachboden immer mit ihr gesungen hatte:

    Ein Esel lag darnieder
    In einem Wald sehr krank.
    Ein Wolf, der stellt sich bieder,
    Nahm für ihn seinen Gang,
    Tät ihm schmeichelnd zusprechen:
    »Leid ist mir dein Unfall.
    Sag, wo ist dein Gebrechen?
«
    Begriff ihn überall.

    Der Esel lag in Sorgen,
    Forcht des Wolfes Hinterlist,
    Sprach zum Wolf unverborgen:
    »
Wo du mich greifen bist,
    Ist am größten mein Schmerzen.
    Ich bitt dich, geh von mir,
    So wird Ruh meinem Herzen;
    Das fürchtet sich vor dir.
«

    Also wo los Gesellen
    Voll allerlei Bosheit
    Sich freundlich gen eim stellen,
    Der vertrau nit zu weit!
    Sorgfältig sei einzogen,
    Fürcht seine böse Tück.
    Kummt er ab unbetrogen,
    So sag er von Glück.

    Nach unzähligen verzweifelten Versuchen, die Tür selbst zu öffnen, hatten die beiden erschöpft aufgegeben und sich so eng aneinander geschmiegt, wie es nur ging. Und als die heißen Tränen der Mutter auf Sophies Stirn getropft waren, hatte sie verstanden, dass sie in dem Keller vielleicht sterben würden, wenn der Vater ihnen nicht vergab und die Tür öffnete.
    »Sophie?«
    Sie schreckte aus ihren Gedanken auf.
    In der Tür ihres Ladens stand Augustin von Küffen und schaute besorgt zu ihr herüber. Seine Augen wirkten noch dunkler als vorhin auf dem Markt.
    »Augustin von Küffen!« Sie stand auf und strich ihr Kleid glatt. »Kommt doch herein.« Das tat er zögerlich, dann schloss er die Tür hinter sich.
    »Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, uns zu duzen, Sophie?«, rügte er sie mit freundlicher Stimme.
    »Aber Ihr … du … bist ein studierter Herr.«
    »Und du eine schöne Frau aus gutem Hause.«
    »Das
gute Haus
ist seit zwanzig Jahren vergangen und längst vergessen«, gab Sophie leise zurück und schlug beschämt die Augen nieder. Dann aber nickte sie lächelnd und blickte ihn an. »Ich will es versuchen, Augustin. Aber sag mir, warum bist du gekommen?«
    »Ich möchte dir und deiner Mutter noch einmal meine Dienste anbieten.«
    Sophies Hände fuhren zur Brust, denn dort hinein stahl sich ein widersprüchliches Gefühl aus Hoffnung und Furcht. »Das ist sehr freundlich von dir, aber warum willst du das für uns tun?«
    »Weil …« Er beendete den Satz nicht. Sein durch den Raum schweifender Blick wanderte über die fast leeren Kisten, in denen einmal Werkzeug, Holzteller und Spindeln zum Verkauf angeboten worden waren, den Tisch mit den Bronzespiegeln und schließlich sie selbst. Er trat näher und nahm einen der Spiegel auf, als würde er dessen Qualität prüfen. Tatsächlich betrachtete er wohl sich selbst darin, denn er blinzelte ein paar

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