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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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ich ihnen alle Drogen aus, die ich dabeihatte, sogar die Schlaftabletten. Doch ziemlich schnell stellte sich heraus, dass meine Entschiedenheit nicht stark genug war, um mir durch das, was mir bevorstand, hindurchzuhelfen. In den vier Monaten, die ich in der kleinen Bruderschaft hauste, brach ich mehr als einmal mein Versprechen und leistete mir nicht wenige üble Fehltritte. Für jemanden, der den Rausch der Nüchternheit vorzieht, ist es ein Leichtes, Drogen aufzutreiben, auch wenn er Ausländer ist. Als ich eines Nachts sturzbetrunken zurückkam, waren sämtliche Riegel von innen vorgeschoben, und ich musste im Garten schlafen. Am nächsten Tag stellte Meister Samid keine Fragen, und ich entschuldigte mich nicht.
    Von diesen beschämenden Vorfällen abgesehen vertrug ich mich gut mit den Sufis und genoss die Stille, die sich abends über das Gebäude legte. Es war zwar irgendwie seltsam, dort zu sein, aber zugleich hatte es etwas merkwürdig Friedvolles, und obwohl ich es gewohnt war, mit vielen Menschen unter einem Dach zu leben, fand ich dort etwas für mich völlig Neues: innere Ruhe.
    Oberflächlich betrachtet führten wir ein gemeinschaftliches Leben, wir aßen, tranken und verrichteten dieselben Tätigkeiten immer zur selben Zeit, aber unterschwellig bestand der Anspruch und der Ansporn, allein zu bleiben und in sich zu gehen. Das Erste, was man auf dem Sufi-Weg entdeckt, ist die Kunst, inmitten vieler allein zu sein. Das Zweite ist die Entdeckung der vielen im Alleinsein – der inneren Stimmen.
    Während ich darauf wartete, dass mich die marokkanischen Sufis gefahrlos in Mekka und Medina einschleusten, las ich ausgiebig über sufistische Philosophie und Dichtung – anfangs nur aus Langeweile und weil ich nichts Besseres zu tun hatte, dann mit wachsendem Interesse. Wie ein Mensch, dem erst bei einem Schluck Wasser bewusst wird, wie durstig er war, erfuhr ich durch meine Begegnung mit dem Sufismus, dass ich mich nach mehr sehnte. Von allen Büchern, die ich in jenem langen Sommer las, beeindruckten mich die Gedichte Rumis am meisten.
    Drei Monate später sagte Meister Samid völlig unvermittelt, ich würde ihn an jemanden erinnern, und zwar an einen Wanderderwisch namens Schams-e Tabrizi. Manche, erklärte er mir, betrachteten Schams als einen schamlosen Ketzer, in den Augen Rumis jedoch sei er der Mond und die Sonne gewesen.
    Das faszinierte mich. Aber es war mehr als nur Neugier. Während ich Meister Samid zuhörte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, und ich hatte das sonderbare Gefühl eines Déjà-vu.
    Du wirst mich jetzt für verrückt halten, aber ich schwöre bei Gott, dass ich in diesem Moment das leise Rascheln von Seide hörte – erst aus weiter Ferne, dann kam es immer näher – und den Schatten eines Menschen sah, der nicht da war. Vielleicht war es der Abendwind, der durch die Äste strich, vielleicht aber waren es zwei Engelsflügel. Auf jeden Fall war mir in diesem Moment klar, dass ich nirgendwohin mehr gehen musste. Dass das vorbei war. Dass ich es ein für alle Mal satthatte, mich gegen meinen eigentlichen Willen ständig nach einem anderen, immer noch weiter entfernten Ort zu sehnen und immer in Eile zu sein.
    Ich war schon da, wo ich sein wollte. Ich musste nur bleiben und in mein Inneres blicken. Diesen neuen Teil meines Lebens nenne ich meine Begegnung mit dem Buchstaben f im Wort »Sufi«.
    In Liebe
    Aziz

SCHAMS
    KONYA, FEBRUAR 1246
    B edeutende Ereignisse kündigten sich für diesen Tag an, und die Prozession schritt schneller voran als sonst. Grau und tief hingen die Wolken am Himmel. Spätnachmittags begegnete ich Rumi in seinem Zimmer, wo er, die Stirn in gedankenschwere Falten gelegt und mit den Fingern unablässig über die Perlen der Gebetskette gleitend, am Fenster saß. Die schweren, halb zugezogenen Samtvorhänge tauchten das Zimmer in ein Halbdunkel, und ein merkwürdiger Lichtkeil, der von draußen genau dorthin fiel, wo Rumi saß, verlieh dem Anblick etwas Träumerisches. Mich trieb die Frage um, ob Rumi die wahre Absicht hinter dem, worum ich ihn gleich bitten würde, erkennen oder aber bestürzt und empört sein würde.
    Während ich dastand und wie gebannt die Ruhe des Augenblicks in mich aufnahm, gleichzeitig aber auch eine leichte Anspannung empfand, hatte ich einen Moment lang eine Vision. Ich sah Rumi, aber viel älter und hinfälliger, als er war, in einem dunkelgrünen Gewand an genau derselben Stelle sitzen. Er strahlte mehr Mitgefühl und Großmut aus

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