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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Ansichten aufzudrängen. Es gibt keinen Zwang in der Religion.«
    So mancher Gast nickte erleichtert vor sich hin. Ich dagegen hob lieber sofort mein Glas, weil ich schon immer der Meinung war, dass auf ein weises Wort angestoßen werden sollte.
    »Du bist ein guter Mensch und hast ein großes Herz«, sagte ich. »Was die Leute auch über das sagen, was du heute getan hast – und sie werden bestimmt einiges zu sagen haben –, ich jedenfalls finde, dass es von dir als Prediger sehr mutig war, in die Schenke zu gehen und ohne Vorbehalte mit uns zu reden.«
    Rumi schenkte mir einen freundlichen Blick. Dann ergriff er die Weinflaschen, die er nicht angerührt hatte, und ging hinaus in den Abendwind.

ALADDIN
    KONYA, FEBRUAR 1246
    B egierig hatte ich drei Wochen lang auf den richtigen Moment gewartet, um bei meinem Vater um Kimyas Hand anzuhalten. In Gedanken hatte ich schon stundenlange Gespräche mit ihm geführt und alles immer wieder umformuliert, um mich so gut wie möglich auszudrücken. Auf jeden nur denkbaren Einwand hatte ich mir eine Erwiderung zurechtgelegt. Wenn er sagte, dass Kimya und ich wie Bruder und Schwester seien, wollte ich entgegnen, dass wir nicht blutsverwandt seien. Da ich wusste, wie sehr mein Vater Kimya liebte, wollte ich ihn außerdem darauf hinweisen, dass sie nicht weggehen und woanders leben müsste, sondern für immer bei uns bleiben könnte, wenn er uns heiraten ließe. Alles hatte ich gründlich durchdacht, aber ich fand keine Gelegenheit, mit meinem Vater unter vier Augen zu reden.
    Heute Abend jedoch traf ich ihn unter den schlimmstmöglichen Umständen. Eben wollte ich das Haus verlassen, um Freunde zu treffen, als quietschend die Tür aufging und mein Vater hereinkam, in jeder Hand eine Flasche.
    Ich blieb mit offenem Mund stehen. »Was hast du da, Vater?«, fragte ich ihn.
    »Ach das – das ist Wein, mein Sohn«, antwortete er ohne eine Spur von Verlegenheit.
    »Was du nicht sagst!«, rief ich. »Das also ist aus dem großen Maulana geworden: ein alter, besoffener Mann!«
    Da ertönte hinter mir eine mahnende Stimme. »Hüte deine Zunge!«
    Es war Schams. Er starrte mich unverwandt an. »So spricht man nicht mit seinem Vater. Ich habe ihn gebeten, in die Schenke zu gehen.«
    »Komisch, dass mich das so gar nicht überrascht«, entgegnete ich feixend.
    Falls meine Worte Schams gekränkt hatten, so ließ er es sich nicht anmerken. »Wir können gern darüber reden, Aladdin«, sagte er rundheraus. »Allerdings nur, wenn du es zuwege bringst, dir nicht vom Zorn den Blick trüben zu lassen.«
    Dann neigte er den Kopf zur Seite und erklärte mir, ich müsste mein Herz weicher stimmen.
    »Das ist eine der Regeln: Wenn du deinen Glauben festigen willst, musst du innerlich weicher werden. Damit dein Glaube felsenfest ist, muss dein Herz weich wie eine Feder sein. Jeder von uns erlebt Dinge – sei es eine Krankheit, ein Unglück, ein Verlust oder ein großes Schrecknis –, die ihn lehren, weniger selbstsüchtig und voreingenommen zu sein und stattdessen mitfühlender und großzügiger zu werden. Einige lernen ihre Lektion und werden milder, doch andere sind danach noch schroffer als zuvor. Der Wahrheit kommt man nur näher, indem man sein Herz weitet, sodass es die ganze Menschheit umschließt und sogar noch Platz für mehr Liebe hat.«
    »Du hältst dich da raus«, sagte ich. »Ich nehme nämlich, im Gegensatz zu meinem Vater, keine Befehle von betrunkenen Derwischen an!«
    »Schäm dich, Aladdin!«, rief mein Vater.
    Auf der Stelle überfiel mich ein starkes Schuldgefühl, aber es war zu spät. Die ganze Verbitterung, die ich schon bewältigt geglaubt hatte, strömte in mich zurück.
    »Ich bezweifle nicht, dass du mich so sehr hasst, wie du behauptest«, sagte Schams, »aber die Liebe zu deinem Vater ist nie, nicht einmal für einen Augenblick, vergangen. Siehst du nicht, wie sehr du ihn verletzt?«
    »Siehst du nicht, dass du unser Leben zerstörst?«, fauchte ich ihn an.
    Da stürzte mein Vater mit wütend zusammengepressten Lippen auf mich zu und erhob die rechte Hand gegen mich, und ich dachte, er würde mich schlagen. Als er es aber doch nicht tat, wurde mir noch unbehaglicher zumute.
    »Ich schäme mich für dich«, sagte mein Vater, ohne mich anzusehen.
    Mir traten Tränen in die Augen. Ich wandte den Kopf ab und sah plötzlich Kimya vor mir stehen. Wie lange hatte sie uns schon von jener Ecke aus mit angstgeweiteten Augen beobachtet? Wie viel von diesem Streit hatte sie

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