Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
verachtet wird, und nicht ein einziges böses Wort über seine Kritiker ist von ihm zu hören. Ein Sufi benennt keinen Schuldigen. Denn wie kann es Gegner, Rivalen oder überhaupt »andere« geben, wenn es doch gar kein »Selbst« gibt?
Wie sollte jemand schuldig sein, wenn es nur eines gibt?
ELLA
NORTHAMPTON, 17. JUNI 2008
B isher, geliebte Ella, war es nicht schwer, dir von mir zu berichten. Nun hast du mich aber freundlicherweise gebeten, mehr zu erzählen. Und über diese Zeit meines Lebens zu schreiben fällt mir ehrlich gesagt nicht leicht, denn es bringt unangenehme Erinnerungen zurück. Aber gut – ich fange an:
Nach Margots Tod veränderte sich mein Leben dramatisch. Ich versumpfte in einer Clique, die mehr oder minder aus Süchtigen bestand, wurde zum Dauergast bei nächtelangen Partys und in den Clubs von Amsterdam – eines mir bis dahin gänzlich unbekannten Amsterdam. Ich suchte an den denkbar ungeeignetsten Orten nach Mitgefühl und Trost. Ich wurde ein Nachtmensch, freundete mich mit den falschen Leuten an, wachte in den Betten fremder Frauen auf und nahm innerhalb weniger Monate über zwölf Kilo ab.
Nachdem ich zum ersten Mal Heroin geschnupft hatte, erbrach ich mich, und mir wurde so schlecht, dass ich einen ganzen Tag lang den Kopf nicht heben konnte. Mein Körper hatte etwas gegen die Droge. Doch ich war nicht imstande, dieses Zeichen zu erkennen. Schon bald sniffte ich das Zeug nicht mehr, sondern spritzte es mir. Marihuana, Haschisch, LSD, Kokain – ich nahm alles, was mir in die Finger kam. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich ein Wrack aus mir gemacht, psychisch wie physisch. Bei allem, was ich tat, ging es nur noch darum, high zu bleiben.
Und wenn ich high war, plante ich spektakuläre Selbstmorde. Einmal probierte ich es sogar, à la Sokrates, mit Schierling, aber entweder übte das Gift dieser Pflanze auf mich keine Wirkung aus, oder das dunkle Kraut, das ich an der Hintertür eines China-Imbisslokals gekauft hatte, war nur irgendeine gewöhnliche Pflanze gewesen. Vielleicht hatte man mir einfach grünen Tee angedreht und sich hinterher über mich totgelacht. Morgens wachte ich oft in irgendwelchen Wohnungen auf, und neben mir lag wieder eine Neue, aber in mir nagte noch immer dieselbe Leere. Frauen nahmen sich meiner an. Manche waren jünger als ich, manche wesentlich älter. Ich wohnte bei ihnen, schlief in ihren Betten, hielt mich in ihren Ferienhäusern auf, aß das Essen, das sie kochten, trug die Klamotten ihrer Ehemänner, kaufte mit ihren Kreditkarten ein und verweigerte ihnen noch das kleinste bisschen Liebe, auf das sie Anspruch erhoben und das sie zweifellos verdient hatten.
Dieses Leben, selbst gewählt, wie es war, forderte schon bald seinen Tribut. Ich verlor meinen Job, meine Freunde und schließlich auch die Wohnung, in der Margot und ich eine so glückliche Zeit zusammen verbracht hatten. Als ich diesen Lebensstil nicht mehr aufrechterhalten konnte, zog ich in besetzte Häuser, wo alles gemeinschaftlich ablief. In einem besetzten Haus in Rotterdam wohnte ich über fünfzehn Monate lang. In dem Gebäude gab es keine Türen – weder außen noch innen und nicht einmal in der Toilette. Wir teilten alles miteinander. Unsere Songs, unsere Träume, unser Taschengeld, die Drogen, das Essen, die Betten … Alles außer den Schmerz.
Nach Jahren des Drogenkonsums und einem Exzess nach dem anderen erreichte ich den absoluten Tiefpunkt. Ich war nur mehr ein Schatten meiner selbst. Eines Morgens blickte ich, als ich mir das Gesicht wusch, in den Spiegel. Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, der in so jungen Jahren schon so erschöpft und traurig wirkte. Ich legte mich wieder ins Bett und weinte wie ein Kind. Dann durchstöberte ich die Kisten, in denen ich Margots Habseligkeiten aufbewahrte – ihre Bücher, Kleider, Schallplatten, Haarnadeln, Notizen, Bilder – und verabschiedete mich von jedem einzelnen Andenken. Ich verpackte alles ordentlich und verschenkte die Kisten an die Kinder der Einwanderer, die ihr so sehr am Herzen gelegen hatten. Das war 1977.
Über gottgesandte Beziehungen bekam ich einen Job als Fotograf für ein bekanntes Reise-Magazin und brach, vor dem Menschen fliehend, der ich geworden war, mit einem Leinenkoffer und einem gerahmten Bild von Margot nach Nordafrika auf.
Dann brachte mich ein britischer Ethnologe, den ich im Sahara-Atlas kennengelernt hatte, auf eine Idee. Er fragte mich, ob ich schon mal daran gedacht hätte, mich als erster
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