Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
denn je, aber er trug eine Narbe auf dem Herzen, und diese Narbe hatte die Umrisse von mir. Da erkannte ich zweierlei – nämlich dass Rumi in diesem Haus alt werden würde und dass die Wunde, die mein Nichtmehrdasein ihm schlagen würde, niemals verheilen konnte. Mir stiegen die Tränen in die Augen.
»Geht es dir gut? Du bist blass«, sagte Rumi.
Ich rang mir ein Lächeln ab, aber die Last dessen, was ich gleich sagen würde, lag schwer auf meinen Schultern. Meine Stimme war eher ein Krächzen, als ich zu sprechen begann, und weniger kraftvoll, als ich beabsichtigt hatte. »Nein, es geht mir nicht gut. Ich habe Durst, und nichts in diesem Haus vermag meinen Durst zu stillen.«
»Soll ich Kira fragen, ob sie Abhilfe schaffen kann?«, fragte Rumi.
»Nein. Was ich brauche, findet sich nicht in der Küche, sondern in der Schenke. Ich habe Lust mich zu betrinken, verstehst du?«
Ich tat, als bemerkte ich den Schatten des Unverständnisses nicht, der über Rumis Gesicht huschte, und fuhr fort: »Würdest du, anstatt in der Küche Wasser zu holen, in die Schenke gehen und mir Wein bringen?«
»Wein soll ich dir bringen?« Rumi hatte das erste Wort so behutsam ausgesprochen, als hätte er Angst, es zu zerbrechen.
»Ja. Ich wäre dir dankbar, wenn du uns Wein brächtest. Zwei Flaschen sollten genügen, eine für dich, eine für mich. Aber tu mir bitte den Gefallen und nimm nicht einfach die zwei Flaschen in der Schenke mit und komm damit zurück, sondern bleib eine Weile dort. Rede mit den Leuten. Ich warte hier auf dich. Du kannst dir Zeit lassen.«
Rumi warf mir einen halb zornigen, halb fassungslosen Blick zu. Mir kam das Gesicht des Novizen in Bagdad in den Sinn, der mich hatte begleiten wollen, dann aber zu sehr an seinem guten Ruf hing, um es zu wagen. Seine Angst vor der Meinung der anderen hatte ihn zurückgehalten. Ich war gespannt, ob auch Rumi sich von der Sorge um seinen Leumund zurückhalten lassen würde.
Zu meiner großen Erleichterung stand er auf und nickte mir zu.
»Ich war noch nie in einer Schenke und habe noch nie Wein getrunken. Ich glaube nicht, dass man recht tut, wenn man trinkt. Aber ich vertraue dir ganz, weil ich der Liebe zwischen uns vertraue. Es muss einen Grund geben, warum du mich um so etwas bittest, und ich muss herausfinden, worin dieser Grund besteht. Ich gehe jetzt und hole den Wein.«
Damit verabschiedete er sich und verließ das Zimmer.
Kaum war er fort, stürzte ich im Zustand tiefen Entrücktseins zu Boden. Ich griff nach der Gebetskette, die Rumi zurückgelassen hatte, und dankte Gott wieder und wieder, weil Er mir einen wahrhaftigen Gefährten geschenkt hatte, und ich betete darum, dass die Trunkenheit der Göttlichen Liebe, in der Rumis schöne Seele verweilte, niemals Ernüchterung erfahren würde.
VIERTER TEIL
Feuer
ALLES HARMVOLLE, VERHEERENDE UND VERNICHTENDE
SULEIMAN, DER SÄUFER
KONYA, FEBRUAR 1246
B esoffen vom Wein hatte ich schon so manche irrwitzige Wahnvorstellung, aber mitanzusehen, wie der große Rumi durch die Tür der Schenke trat, verschlug sogar mir die Sprache. Ich zwickte mich, aber die Traumerscheinung blieb.
»Sag mal, was hast du mir da zu trinken gegeben, Hristos?«, rief ich. »In der letzten Weinflasche muss ein wahres Teufelsgebräu gewesen sein. Du ahnst ja nicht, was für ein Wahnbild ich da gerade sehe!«
»Sei still, du Idiot!«, flüsterte mir jemand von hinten zu.
Ich drehte mich um, weil ich wissen wollte, wer mir da den Mund verbot, und sah zu meiner Verblüffung, dass alle Männer in der Schenke, auch Hristos selbst, zur Tür starrten. In der ganzen Taverne herrschte eine gespenstische Stille, und sogar Saqui, der Hund des Wirts, machte, wie er so dalag, die Schlappohren dicht an den Boden gepresst, einen ziemlich verdatterten Eindruck. Der persische Teppichhändler hatte aufgehört, die grässlichen Melodien zu singen, die er als Lieder bezeichnete, und stand schwankend auf den Füßen, das Kinn in übertriebener Ernsthaftigkeit nach oben gereckt wie ein Betrunkener, der krampfhaft nüchtern wirken will.
Schließlich brach Hristos das Schweigen. »Willkommen in meiner Schenke, Maulana«, sagte er in ausgesucht höflichem Tonfall. »Es ist mir eine Ehre, dich unter diesem Dach begrüßen zu dürfen. Was kann ich für dich tun?«
Ich blinzelte und blinzelte, denn mir dämmerte endlich, dass der Mann, der da stand, wirklich Rumi war.
»Danke«, erwiderte Rumi, und kurz überzog ein strahlendes Lächeln sein Gesicht. »Ich
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