Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
westlicher Fotograf in die heiligsten Städte des Islam einzuschleichen. Ich wusste gar nicht, wovon er sprach. Er erklärte mir, es gebe ein saudisches Gesetz, wonach es Nichtmuslimen streng verboten sei, Mekka und Medina zu betreten. Weder Christen noch Juden dürften sich dort aufhalten, also war die einzige Möglichkeit, irgendwie zu der Stadt vorzudringen und dann Fotos zu machen. Wer erwischt würde, müsse mit einer Gefängnisstrafe oder Schlimmerem rechnen. Ich hörte gebannt zu. Der Nervenkitzel, sich widerrechtlich auf verbotenes Terrain zu begeben, zu erreichen, was noch keiner zuvor geschafft hatte, der Adrenalinausstoß, ganz zu schweigen von dem Ruhm und dem Geld nach getaner Tat … Die Vorstellung zog mich an wie ein Topf Honig.
Der Ethnologe meinte, allein würde ich es nicht schaffen, ich bräuchte Beziehungen, und schlug vor, ich solle mich an die Sufi-Brüderschaften in der Gegend wenden. Wer weiß, vielleicht helfen sie dir, sagte er.
Ich wusste überhaupt nichts über den Sufismus, und er war mir auch herzlich egal. Für den Fall, dass sie mir Hilfe anboten, war ich gern bereit, mich mit den Sufis zu treffen. Ich betrachtete sie lediglich als Mittel zum Zweck. Aber damals betrachtete ich alles und jeden als Mittel zum Zweck.
Das Leben ist merkwürdig, Ella. Letztlich habe ich es nie nach Mekka oder Medina geschafft. Damals nicht und auch nicht danach. Das Schicksal führte mich auf einen völlig anderen Weg, einen Weg, der viele unvorhersehbare Biegungen nahm, und jede veränderte mich so tiefgreifend und unwiderruflich, dass das ursprüngliche Ziel nach einiger Zeit all seine Bedeutung verlor. Am Anfang hatten gänzlich materialistische Gründe im Vordergrund gestanden, doch am Ende der Reise war ich wie verwandelt.
Wer hätte ahnen können, dass das, was ich ursprünglich als Mittel zum Zweck betrachtet hatte – die Sufis nämlich –, schon bald zum eigentlichen Zweck wurde? Diesen Teil meines Lebens nenne ich meine Begegnung mit dem Buchstaben u in dem Wort »Sufi«.
Alles Liebe
Aziz
DIE HURE WÜSTENROSE
KONYA, FEBRUAR 1246
B itterkalt und düster war der Tag, an dem ich das Bordell verließ, der frostigste seit vierzig Jahren. Auf den schmalen Serpentinenwegen glitzerte der frisch gefallene Schnee, und an den Hausdächern und Minaretten hingen spitze Eiszapfen von gefährlicher Schönheit. Am Nachmittag war es so kalt, dass die Katzen erfroren auf den Straßen lagen, ihre Schnurrhaare hatten sich in feine Eisfäden verwandelt; und unter der Last des Schnees waren mehrere baufällige Häuser zusammengebrochen. Am meisten zu leiden hatten, nach den streunenden Katzen, die Obdachlosen von Konya. Ein halbes Dutzend steif gefrorene Leichen lagen herum – alle zusammengerollt wie die Kinder im Bauch der Mutter und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen, als erwarteten sie, in ein besseres, wärmeres Leben hineingeboren zu werden.
Am Spätnachmittag, als alle ein Schläfchen machten vor dem abendlichen Trubel, schlich ich mich aus meinem Zimmer. Ich nahm nur ein paar einfache Kleidungsstücke mit und ließ allen Zierrat und die Seidengewänder, die ich immer für besondere Freier angelegt hatte, zurück. Was ich mir im Bordell verdient hatte, sollte auch dortbleiben.
Auf halber Treppe sah ich Magnolia an der Haustür stehen. Sie kaute gerade wieder die braunen Blätter, nach denen sie süchtig war. Sie war älter als die anderen Mädchen im Bordell und hatte in letzter Zeit über Hitzewallungen geklagt. Nachts hörte ich, wie sie sich im Bett herumwarf. Dass ihre Blütezeit als Frau allmählich zu Ende ging, war nicht zu übersehen. Die jüngeren Mädchen bemerkten manchmal scherzhaft, sie würden Magnolia beneiden, weil sie bald nicht mehr auf ihre Regel achten und keine Schwangerschaften befürchten müsste und an jedem Tag im Monat mit einem Mann schlafen könnte, aber uns allen war klar, dass eine gealterte Hure kaum überleben konnte.
Als ich Magnolia dort stehen sah, wusste ich sofort, dass ich nur zwei Möglichkeiten hatte. Ich konnte entweder in mein Zimmer zurückgehen und das Weglaufen vergessen oder zur Tür hinaustreten und auf mich nehmen, was auch immer geschähe. Mein Herz entschied sich für die zweite Möglichkeit.
»Na, geht’s dir wieder besser, Magnolia?«, fragte ich sie so locker und entspannt, wie ich konnte.
Magnolias Miene hellte sich auf, verdüsterte sich aber wieder, als sie die Tasche in meiner Hand sah. Es war sinnlos zu lügen. Sie wusste, dass
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