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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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mir die Herrin verboten hatte, mein Zimmer zu verlassen, vom Haus selbst ganz zu schweigen.
    »Haust du etwa ab?« Magnolia rang nach Luft, als würde ihr schon die Frage Angst einjagen.
    Ich schwieg. Jetzt war es an ihr, eine Entscheidung zu treffen. Sie konnte mich aufhalten und allen meinen Plan verraten oder mich einfach gehen lassen. Magnolia starrte mich ernst und verbittert an.
    »Geh zurück in dein Zimmer, Wüstenrose«, sagte sie. »Sonst lässt dich der Wirt von Schakalkopf jagen. Weißt du denn nicht, was er damals gemacht hat mit …?«
    Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Es war ein ungeschriebenes Gesetz im Bordell, nie über die unglückseligen Mädchen zu reden, die vor uns dort gearbeitet und ein frühes Ende gefunden hatten, und wenn wir sie, was nur sehr selten vorkam, doch einmal erwähnten, achteten wir darauf, nie ihre Namen zu nennen. Es ist müßig, sie in ihren Gräbern zu stören. Sie hatten ein so hartes Leben – jetzt sollten sie in Frieden ruhen.
    »Selbst wenn du es schaffst, von hier zu fliehen – wie willst du dein Leben bestreiten?«, bohrte Magnolia nach. »Du wirst verhungern.«
    Ich erkannte die Angst in ihren Augen – nicht die Angst davor, dass ich scheitern und vom Bordellwirt bestraft werden könnte, sondern davor, dass ich es schaffte. Ich war im Begriff, genau das zu tun, was sie sich immer erträumt hatte, ohne je den Mut dafür zu finden; deshalb empfand sie Achtung vor meiner Kühnheit und hasste mich im gleichen Moment. Einen Augenblick lang schwankte ich innerlich und wäre wohl zurückgegangen, hätte ich nicht im Geist Schams-e Tabrizis Stimme vernommen.
    »Lass mich vorbei, Magnolia. Nicht einen Tag länger bleibe ich hier.«
    Nachdem Baybars mich geschlagen hatte und ich dem Tod so nahe gewesen war, hatte sich etwas in mir für immer verändert. All meine Angst schien aufgebraucht. So oder so war ich auf alles gefasst. Ich war entschlossen, den Rest meines Lebens Gott zu widmen. Ob es nur einen einzigen Tag oder noch viele Jahre währen würde, spielte keine Rolle. Schams-e Tabrizi hatte gesagt, dass der Glaube und die Liebe die Menschen zu Helden machten, weil sie alle Ängste und Sorgen aus ihren Herzen vertrieben. Ich begann zu verstehen, was er damit meinte.
    Und merkwürdigerweise verstand es auch Magnolia. Sie warf mir einen langen, schmerzlichen Blick zu, trat langsam zur Seite und gab den Weg frei.

ELLA
    NORTHAMPTON, 19. JUNI 2008
    B einahe befremdlich erscheint es mir, liebe Ella, dieses Gefühl von Leichtigkeit, das mich überkommt, wenn ich die Geschichten aus meiner Vergangenheit mit dir teile, obwohl ich es nicht gewohnt bin, mit anderen über das alles zu reden. Danke für deine Anteilnahme. Ich freue mich darüber, dass dir meine Lebensgeschichte gefällt und du so viel darüber nachdenkst.
    Den Sommer 1977 verbrachte ich bei einer Gruppe von Sufis in Marokko. Mein Zimmer war weiß, klein und karg. Ich hatte nichts außer dem Allernotwendigsten: eine Schlafmatte, eine Öllampe, eine Gebetskette aus Bernstein, eine Topfpflanze am Fenster, ein Amulett gegen den bösen Blick und eine Nussholzkommode mit Rumis Gedichten in der Schublade. Kein Telefon, keinen Fernseher, keine Uhr, keinen Strom. Aber das machte mir nichts aus. Nachdem ich jahrelang in besetzten Häusern gelebt hatte, sprach für mich nichts dagegen, es auch in einer Derwisch-Bruderschaft aushalten zu können.
    Am ersten Abend meines Aufenthalts kam Meister Samid in mein Zimmer, um nach mir zu sehen. Ich sei, sagte er, herzlich eingeladen, bis zu meinem Aufbruch nach Mekka zu bleiben. Allerdings unter einer Bedingung: keine Drogen!
    Ich weiß noch, dass es mich heiß und kalt überlief wie ein Kind, das man mit der Hand in der Keksdose ertappt hat. Hatten sie womöglich in meinem Koffer gestöbert, während ich draußen gewesen war? Was der Meister als Nächstes sagte, werde ich mein Leben lang nicht vergessen: »Wir müssen deine Sachen nicht durchsuchen, um zu wissen, dass du Drogen nimmst, Bruder Craig. Du hast die Augen eines Süchtigen.«
    Dabei hatte ich selbst mich komischerweise bis zu diesem Tag nie als drogenabhängig betrachtet. Ich war sicher, alles im Griff zu haben, und überzeugt davon, dass mir die Drogen dabei halfen, meine Probleme zu bewältigen. »Den Schmerz zu betäuben ist nicht dasselbe, wie ihn zu heilen«, sagte Meister Samid. »Wenn die Narkose abklingt, ist der Schmerz noch immer da.«
    Ich wusste, dass er recht hatte. Mit arroganter Entschiedenheit händigte

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