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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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möchte Wein.«
    Dem armen Hristos blieb vor Schreck der Mund offen stehen, als er das hörte. Nachdem er sich wieder aus seiner Starre gelöst hatte, führte er Rumi zum ersten freien Tisch, der zufälligerweise neben meinem stand.
    »As-salamu alaikum«, sagte Rumi an mich gewandt, während er sich setzte.
    Ich erwiderte den Gruß und fügte ein paar Höflichkeitsfloskeln hinzu, bin mir aber nicht sicher, ob sie verständlich waren. Mit seiner abgeklärten Miene, dem teuren Gewand und dem eleganten dunkelbraunen Kaftan wirkte Rumi völlig fehl am Platz.
    Ich beugte mich zu ihm vor und flüsterte: »Ist es sehr unanständig, wenn ich frage, was einen Mann wie dich hierherführt?«
    »Ich lege eine Sufi-Prüfung ab«, antwortete Rumi und zwinkerte mir zu wie einem guten Freund. »Schams hat mich hergeschickt, damit ich meinen Ruf zerstöre.«
    »Ist das denn gut?«, fragte ich.
    Rumi lachte. »Nun, das kommt auf die Betrachtungsweise an. Manchmal tut es not, alle Bande zu zerreißen, um das eigene Ich zu besiegen. Wenn man so sehr an der Familie, an der gesellschaftlichen Stellung oder auch nur an der Schule oder Moschee hängt, dass die Vereinigung mit Gott dadurch verhindert wird, muss man diese Bindungen lösen.«
    Ich wusste nicht genau, ob ich ihn richtig verstanden hatte, aber irgendwie fand mein benebelter Kopf diese Erklärung völlig einleuchtend. Ich hatte die Sufis ja schon immer für eine verrückte, kunterbunte Truppe gehalten und ihnen alle möglichen Verschrobenheiten zugetraut.
    Jetzt beugte Rumi sich vor und fragte im gleichen Flüsterton: »Wäre es sehr unanständig, wenn ich dich fragte, woher die Narbe in deinem Gesicht stammt?«
    »Das ist leider keine besonders bemerkenswerte Geschichte«, antwortete ich. »Ich bin einmal spät nachts auf dem Heimweg einem Wachmann begegnet, und er hat mich grün und blau geprügelt.«
    »Aber warum denn?« Rumi wirkte ehrlich besorgt.
    »Weil ich Wein getrunken hatte«, sagte ich und deutete auf die Flasche, die Hristos gerade auf Rumis Tisch stellte.
    Rumi schüttelte den Kopf. In seiner Miene lag Verwirrung, wie wenn er gar nicht glaubte, dass so etwas wirklich geschieht; aber gleich darauf erschien ein freundliches Lächeln auf seinen Lippen. Und als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, unterhielten wir uns weiter. Bei Brot und Ziegenkäse sprachen wir über den Glauben und die Freundschaft und andere Dinge des Lebens, die ich schon lange verloren geglaubt hatte und nun zu meiner Freude aus meinem Herzen hervorholte.
    Kurz nach Sonnenuntergang stand Rumi auf, um nach Hause zu gehen. Alle erhoben sich zum Abschied. Ein wahrlich großartiger Anblick!
    »Du darfst erst gehen, wenn du uns erklärst, warum der Wein verboten wurde«, sagte ich.
    Im nächsten Moment trat Hristos mit finsterer Miene zu mir, weil er Angst hatte, die Frage könnte seinen angesehenen Gast verärgern. »Sei still, Suleiman«, zischte er. »Was musst du solche Fragen stellen!«
    Ich ließ mich nicht abwimmeln. »Nein, im Ernst«, sagte ich und sah Rumi an. »Du hast uns ja erlebt. Wir sind keine schlechten Menschen, aber genau das wird ständig behauptet. Sag mir, was ist so schlimm daran, wenn man ein Gläschen Wein trinkt, solange man sich anständig aufführt und niemandem schadet?«
    Obwohl hinten im Eck ein Fenster offen stand, war die Luft in der Schenke muffig und verraucht – und voller Spannung. Alle warteten auf die Antwort. Nachdenklich, freundlich und nüchtern trat Rumi auf mich zu und sagte:
    »Wenn der Weintrinker
    Von großer Sanftheit erfüllt ist,
    Zeigt er sie
    Auch als Betrunkener.
    Erfüllen ihn aber verborgener Zorn und Hochmut,
    So zeigen sich diese.
    Und weil es sich mit den meisten Menschen so verhält,
    Ist es jedermann verboten, Wein zu genießen.«
    Ein Weilchen herrschte völlige Stille. Alle sannen über Rumis Worte nach.
    »Wein ist kein unschuldiges Getränk, liebe Freunde«, verkündete Rumi, und sein Tonfall war nun, wenn auch gelassen, gebieterisch und entschieden. »Er bringt nämlich das Schlechteste in uns zum Vorschein. Meines Erachtens ist es besser, sich des Alkohols zu enthalten. Davon abgesehen dürfen wir dem Alkohol nicht das anlasten, was wir selbst zu verantworten haben. Wir müssen unseren eigenen Hochmut, unseren eigenen Zorn bekämpfen, das ist dringlicher. Letztlich wird jeder, der trinken will, es auch tun, und wer sich vom Wein fernhalten möchte, wird sich davon fernhalten. Wir haben kein Recht, anderen unsere

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