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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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als alle schliefen.«
    Das war so irrwitzig, dass man nicht einmal darüber lachen konnte. »Seit wann spazieren Huren einfach so aus dem Bordell hinaus?«, fragte ich. »Du wirst sie auf der Stelle zurückholen!«
    Er betrachtete mich, als sähe er mich zum ersten Mal richtig an. »Für wen hältst du dich, dass du mir Befehle gibst?«, giftete er. Ganz anders als Wüstenrose blickte er mich herausfordernd an, und seine kleinen Augen sprühten förmlich Funken.
    »Ich bin Wachmann und habe einen Onkel in hoher Stellung. Ich kann diese Lasterhöhle schließen lassen und euch alle auf die Straße setzen«, sagte ich, streckte den Arm aus und nahm mir ein Stück Lokum aus der Schüssel auf seinem Schoß. Es war weich und ließ sich vorzüglich kauen.
    Dann wischte ich mir die klebrigen Finger am Seidenschal des Wirts ab. Er erblasste vor Wut, wagte es aber nicht, einen Streit mit mir anzufangen.
    »Warum schiebst du mir die Schuld zu, anstatt es diesem Derwisch anzulasten? Schließlich hat er Wüstenrose dazu überredet, das Bordell zu verlassen und Gott zu suchen.«
    Zuerst begriff ich gar nicht, wen er meinte, aber dann ging mir auf, dass er von niemand anderem sprach als von Schams-e Tabrizi.
    Erst meinen Onkel vor seinen Schülern ohne Achtung behandeln und jetzt das. Offenbar wusste der Ketzer nicht, wann er den Bogen überspannte.

ELLA
    NORTHAMPTON, 25. JUNI 2008
    B isher, geliebter Aziz, habe ich dir noch nie einen Brief geschrieben. Auf die altmodische Weise, meine ich, mit Tinte, parfümiertem Papier, einem passenden Umschlag und einer Briefmarke. Aber diesmal wollte ich genau das. Ich werde ihn noch heute Nachmittag nach Amsterdam schicken. Denn wenn ich es nicht gleich mache, schaffe ich es vielleicht nie.
    Da lernt man nun jemanden kennen – jemanden, der völlig anders ist als alle Menschen um einen herum. Jemanden, der alles in einem anderen Licht sieht und einen zwingt, den eigenen Blickwinkel zu verschieben, zu verändern, alles mit neuen Augen zu betrachten, ob innen oder außen. Man denkt, es wäre möglich, eine sichere Distanz zu ihm einzuhalten. Man glaubt, man könnte sich durch diesen wunderschönen Sturm hindurchlavieren, bis einem viel zu plötzlich klar wird, dass man ins offene Meer gestoßen wurde und auf den Wellen taumelt wie eine Nussschale.
    Ich weiß nicht genau, wann deine Worte mich in ihren Bann zu ziehen begannen. Ich weiß nur, dass unsere Korrespondenz mich verändert hat, und zwar von Anfang an. Wahrscheinlich werde ich es bereuen, das ausgesprochen zu haben. Aber da ich es schon mein ganzes Leben lang bereue, bestimmte Dinge nicht getan zu haben, kann es nicht schaden, zur Abwechslung mal etwas zu tun, was ich bereuen werde.
    Seit du mir durch deinen Roman und deine E-Mails »begegnet« bist, beherrschst du meine Gedanken. Immer wenn ich eine Mail von dir lese, beginnt etwas in mir zu wirbeln, und dann wird mir bewusst, dass ich schon seit Langem nicht mehr so zufrieden und aufgeregt war. Du gehst mir den ganzen Tag über keine Sekunde aus dem Kopf. Ich unterhalte mich insgeheim mit dir und frage mich bei jedem neuen Impuls in meinem Leben, wie du wohl darauf reagieren würdest. Wenn ich ein gutes Restaurant aufsuche, möchte ich mit dir dorthin gehen. Wenn ich irgendetwas Interessantes sehe, macht es mich traurig, dass ich es dir nicht zeigen kann. Neulich fragte mich meine jüngere Tochter, ob ich eine neue Frisur hätte. Meine Frisur ist genau wie immer, aber es stimmt – ich sehe anders aus, weil ich mich anders fühle.
    Dann wieder sage ich mir, dass wir uns ja noch nicht einmal persönlich kennen. Und das holt mich in die Wirklichkeit zurück. Und die Wirklichkeit besteht darin, dass ich nicht weiß, was ich mit dir machen soll. Ich habe deinen Roman zu Ende gelesen und mein Gutachten abgegeben. (Ja, ich habe nämlich ein richtiges Gutachten darüber verfasst. Manchmal hätte ich dir gern meine Ansichten mitgeteilt oder dir zumindest das Gutachten geschickt, das die Literaturagentin von mir bekommen hat, aber ich fand, das wäre nicht recht gewesen. Über die Einzelheiten des Gutachtens kann ich mich zwar nicht mit dir austauschen, aber eines sollst du wissen: Dein Buch gefällt mir ungemein. Danke für dieses Lesevergnügen. Ich werde das, was darin steht, nie vergessen.)
    Jedenfalls hat Süße Blasphemie nichts mit meinem Entschluss zu tun, dir diesen Brief zu schreiben – andererseits: Vielleicht war das Buch sogar ausschlaggebend dafür. Diese Sache zwischen uns,

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