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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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sofort meinen Unterrichtsraum!«
    »Sei unbesorgt, ich wollte ohnehin gehen«, erwiderte Schams spitzbübisch und wandte sich noch einmal an uns. »Ihr habt heute eine uralte Auseinandersetzung miterlebt, die bis in die Zeit des Propheten Mohammed zurückreicht, Friede sei auf ihm. Aber diese Auseinandersetzung ist nicht nur in der Geschichte des Islam von Belang, sie ist jeder abrahamitischen Religion wesenhaft eigen. Es ist der Widerstreit zwischen dem Gelehrten und dem Mystiker, zwischen Kopf und Herz. Ihr müsst eure Wahl treffen!«
    Er schwieg eine Weile, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Ich spürte seinen Blick auf meinem Gesicht und empfand es fast so, als teilten wir ein Geheimnis, als würde ich in eine nie erwähnte, nie beschriebene Bruderschaft aufgenommen.
    »Letzten Endes«, fuhr Schams fort, »kann weder euer Lehrer noch ich mehr wissen, als Gott uns zu wissen erlaubt. Jeder tut das Seinige. Aber nur eines ist wirklich wichtig, nämlich dass das Licht der Sonne nie von der Blindheit im Auge des Leugners überschattet wird, desjenigen, der sich weigert zu erkennen.«
    Schams-e Tabrizi führte seine rechte Hand ans Herz und verabschiedete sich von uns – auch von Scheich Jassin, der mit grimmiger Miene und ohne den Gruß zu erwidern, ein wenig abseits stand. Der Derwisch verließ den Raum, schloss die Tür hinter sich und ließ uns in einer Stille zurück, die so tief war, dass wir erst nach langer Zeit wieder sprechen und uns regen konnten.
    Irschad war es schließlich, der mich aus meiner Verzückung weckte, indem er mich ziemlich missbilligend anstarrte. Erst da bemerkte ich, dass meine rechte Hand auf meinem Herzen lag und ich einer von mir erkannten Wahrheit die Ehre bezeugt hatte.

BAYBARS, DER KRIEGER
    KONYA, MAI 1246
    B esinnungslos vor Wut musste ich mir anhören, dass Schams die Frechheit besessen hatte, meinen Onkel vor allen Schülern zur Rede zu stellen. Hat dieser Mann keinen Funken Anstand im Leib? Wäre ich doch nur in der Madrasa gewesen, als er dort eintraf! Ich hätte ihn mit einem Tritt hinausbefördert, noch bevor er seinen frevlerischen Mund überhaupt hätte aufmachen können! Aber ich war nun mal nicht da, und so führte er mit meinem Onkel ein langes Gespräch, über das sich die Schüler seitdem ununterbrochen auslassen. Allerdings sind ihre Berichte mit Vorsicht zu genießen, denn sie klingen widersprüchlich und zollen diesem widerwärtigen Derwisch viel zu viel Anerkennung.
    Ich bin sehr angespannt heute Abend, und das wegen Wüstenrose, dieser Hure. Ich muss immerzu an sie denken. Sie ist wie ein Schmuckkästchen mit Geheimfächern. Man glaubt sie zu besitzen, aber wenn der Schlüssel fehlt, bleibt sie sogar dann noch verschlossen und unerreichbar, wenn man sie in den Armen hält.
    Die größte Sorge bereitet mir, dass sie sich einfach so ergeben hat. Ständig frage ich mich, warum sie sich nicht gegen meinen Wutausbruch wehrte. Warum blieb sie reglos unter meinen Füßen liegen wie ein schmutziger alter Teppich? Wenn sie zurückgeschlagen oder um Hilfe geschrien hätte, wäre ich nicht so weit gegangen. Aber sie lag einfach auf dem Boden, mit hervortretenden Augen und fest geschlossenem Mund, als wollte sie es um jeden Preis mit Fassung über sich ergehen lassen. War es ihr wirklich einerlei, ob ich sie töten würde oder nicht?
    Ich habe mich ehrlich bemüht, nicht wieder ins Bordell zu gehen, aber heute siegte mein Bedürfnis, sie zu sehen. Auf dem Weg dorthin versuchte ich mir vorzustellen, was sie bei meinem Anblick tun würde. Falls sie sich über mich beschweren und es unangenehm werden sollte, würde ich den fetten Wirt bestechen oder ihm drohen. Ich hatte mir alles schön zurechtgelegt und mich auf alles vorbereitet – nur nicht darauf, dass sie weggelaufen war.
    »Was soll das heißen, Wüstenrose ist nicht da?«, rief ich. »Wo ist sie?«
    »Vergiss die Hure«, sagte der Hermaphrodit, schob sich ein Stück Lokum in den Mund und schleckte sich den Sirup vom Finger. Als er sah, wie sehr mich die Nachricht mitnahm, fügte er etwas freundlicher hinzu: »Wirf doch einfach mal einen Blick auf die anderen Mädchen, Baybars!«
    »Ich will deine billigen Huren nicht, du fetter Zwitter. Ich will mit Wüstenrose reden, und zwar sofort.«
    Der Bordellwirt zog, solcherart beschimpft, seine dunklen, kantigen Brauen hoch, wagte es aber nicht, mit mir zu streiten. Als schämte er sich für seine Worte, sagte er fast flüsternd: »Sie ist weg. Wahrscheinlich abgehauen,

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