Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
was immer es auch ist, hat mich dazu getrieben, und die überwältigende Wirkung, die sie auf mich hat, entzieht sich schlicht meiner Kontrolle. Das Ganze ist so ernst geworden, dass ich nicht mehr damit umgehen kann. Anfangs liebte ich deine Fantasie und deine Geschichten, aber dann wurde mir klar, dass ich den Mann hinter den Geschichten liebe.
Und jetzt weiß ich nicht, was ich mit dir machen soll.
Ich muss diesen Brief, wie gesagt, sofort abschicken. Andernfalls müsste ich ihn in tausend Schnipsel zerreißen und so tun, als gäbe es nichts Neues, nichts Ungewöhnliches in meinem Leben.
Ja, ich könnte tun, was ich immer tue, nämlich vorgeben, alles wäre normal.
Ich könnte es vorgeben – wäre da nicht dieser süße Schmerz in meinem Herzen …
In Liebe
Ella
KIRA
KONYA, MAI 1246
B ewährungsprobe. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Heute Morgen stand aus heiterem Himmel eine junge Frau vor unserem Haus und fragte nach Schams-e Tabrizi. Ich sagte ihr, sie solle später wiederkommen, weil er nicht da sei, aber sie erklärte, sie könne nirgendwohin und wolle im Hof warten. Da wurde ich misstrauisch und fragte sie, wer sie sei und woher sie komme. Sie fiel auf die Knie, hob ihren Schleier und zeigte mir ihr mit Narben übersätes Gesicht. Trotz dieser Makel war sie sehr hübsch, so zart und schlank. Unter Tränen und Schluchzen und erstaunlich wortgewandt bestätigte sie mir, was ich bereits geahnt hatte. Sie war eine Hure aus dem Bordell.
»Aber ich habe dieses grauenhafte Haus verlassen«, sagte sie. »Ich bin ins öffentliche Bad gegangen und habe mich vierzig Mal gewaschen und dabei vierzig Mal gebetet. Ich habe einen Eid geschworen, mich von Männern fernzuhalten. Von nun an widme ich mein Leben Gott.«
Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Ich betrachtete ihre Augen, aus denen so viel Verletztheit sprach, und staunte darüber, dass sie, so jung und zerbrechlich, wie sie war, den Mut gefunden hatte, die einzige Art zu leben, die sie kannte, hinter sich zu lassen. Es störte mich, ein gefallenes Mädchen in der Nähe meines Hauses zu wissen, aber sie hatte etwas an sich, das mir das Herz brach – eine Schlichtheit, fast etwas Unschuldiges, das ich noch nie an einem Menschen gesehen hatte. Ihre braunen Augen erinnerten mich an die Augen der Jungfrau Maria. Ich brachte es nicht über mich, sie davonzujagen, also ließ ich sie im Hof warten. Mehr konnte ich nicht für sie tun. Sie setzte sich an die Mauer und starrte reglos wie eine Marmorstatue in die Luft.
Als Schams und Rumi eine Stunde später von ihrem Spaziergang zurückkamen, lief ich ihnen entgegen und erzählte von der unerwarteten Besucherin.
»Soll das heißen, dass in unserem Hof eine Hure sitzt?«, fragte Rumi verblüfft.
»Ja. Sie sagt, sie hat das Bordell verlassen, um Gott zu finden.«
»Ah, das ist Wüstenrose«, rief Schams. Er klang eher erfreut als erstaunt. »Warum hast du sie draußen warten lassen? Führ sie ins Haus!«
»Aber was werden die Nachbarn sagen, wenn sie erfahren, dass wir eine Hure beherbergen?«, wandte ich mit vor Anspannung brüchiger Stimme ein.
»Wir leben ohnehin alle unter demselben Dach«, entgegnete Schams und deutete zum Himmel. »Könige und Bettler, Jungfrauen und Huren, über allen wölbt sich derselbe Himmel.«
Wie hätte ich mich mit Schams streiten können? Er hat auf alles eine Antwort.
Ich führte die Hure ins Haus und betete darum, dass die neugierigen Bicke der Nachbarn nicht gerade jetzt auf uns fielen. Kaum hatte Wüstenrose den Raum betreten, lief sie schluchzend auf Schams zu und küsste seine Hände.
»Ich freue mich sehr darüber, dass du hier bist.« Schams strahlte, als würde er eine alte Freundin begrüßen. »Dorthin wirst du niemals zurückkehren. Dieser Teil deines Lebens ist für immer vorbei. Möge Gott deine Reise zur Wahrheit ertragreich werden lassen!«
Da weinte Wüstenrose noch bitterlicher. »Der Wirt wird mich nicht in Ruhe lassen. Er wird Schakalkopf auf mich ansetzen. Du weißt ja nicht, wie …«
Schams unterbrach sie. »Komm wieder zu Sinnen, Kind. Denk an folgende Regel: Während alle auf dieser Welt danach streben, irgendwelche Ziele zu erreichen und irgendwer zu werden, um dann all das nach dem Tod zurücklassen zu müssen, geht es dir um die höchste Stufe des Nichts. Leb das Leben so leicht und leer wie die Null. Wir sind wie Töpfe. Nicht die äußere Verzierung, sondern die innere Leere hält uns aufrecht. Und ebenso lässt uns nicht das,
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