Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
zuerst langsam, dann in atemberaubender Geschwindigkeit –, und ihre Röcke entfalteten sich wie Lotusblüten.
Es war ein fesselnder Anblick. Ich konnte nicht umhin zu lächeln, so stolz und glücklich war ich. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die Menge um mich herum. Selbst die übelsten Lästermäuler folgten der Darbietung mit sichtlicher Bewunderung.
Es schien, als wollten sich die Derwische bis in alle Ewigkeit drehen; doch dann wurde die Musik lauter, und hinter dem Vorhang fiel ein Rebab in die Ney- und Trommelklänge ein. In diesem Augenblick stürmte Schams auf die Bühne wie ein rasender Wüstenwind. Sein Gewand war dunkler als das der anderen, er war größer als sie und kreiste am allerschnellsten. Er hielt die weit geöffneten Hände dem Himmel entgegen und reckte auch sein Gesicht nach oben wie eine Sonnenblume, die die Sonne sucht.
Viele Zuschauer schnappten von Ehrfurcht ergriffen nach Luft. Selbst diejenigen, die Schams-e Tabrizi hassten, erlagen dem Zauber dieses Augenblicks. Ich schielte zu meinem Vater hinüber. Während Schams sich wie im Rausch drehte und die Schüler, etwas langsamer, ihre Kreisbahnen zogen, stand mein Vater reglos da wie eine alte Eiche, ruhig und weise, in unablässigem Gebet die Lippen bewegend.
Als die Musik schließlich langsamer wurde, blieben alle Derwische auf einmal stehen. Die Lotusblüten schlossen sich. Mit einer fast zärtlichen Geste erteilte mein Vater jedem auf der Bühne und davor seinen Segen, und einen Moment lang schien es, als wären wir alle in vollkommener Eintracht miteinander verbunden. Jäh legte sich eine tiefe Stille über die Halle. Niemand wusste, was nun zu tun sei. Niemand hatte jemals so etwas gesehen.
Die Stimme meines Vaters durchbrach die Stille. »Dies, meine Freunde, nennt man den Sema – den Tanz der kreisenden Derwische. Von heute an werden Derwische jeden Alters den Sema tanzen. Die eine Hand zum Himmel emporgereckt, die andere zur Erde gerichtet, geloben wir, jedes Fünkchen Liebe, das wir von Gott erhalten, an die Menschen weiterzugeben.«
Die Zuschauer lächelten und murmelten Zustimmung. Alle waren von einer warmen, freundlichen Erregung ergriffen. Dies rührte mich so sehr, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Endlich wurden meinem Vater und Schams die Achtung und die Liebe zuteil, die sie so fraglos verdienten.
In dieser herzerwärmenden Stimmung hätte der Abend enden können. Als glücklicher Mensch war ich zuversichtlich, dass sich nun alles zum Besseren wenden würde, wäre danach nicht noch etwas geschehen, was alles zunichtemachte.
SULEIMAN DER SÄUFER
KONYA, JUNI 1246
B litz und Donner! Was für ein unvergesslicher Abend! Ich habe mich noch immer nicht ganz davon erholt. Und das Allererstaunlichste von allem war, was am Schluss geschah.
Nach dem Sema erhob sich der große Kai Chosrau II. und warf einen gebieterischen Blick in die Runde. In vollendeter Selbstgefälligkeit ging er zur Bühne hin, lachte schallend auf und sagte: »Meinen Glückwunsch, Derwische! Eure Darbietung hat mich beeindruckt.«
Rumi dankte ihm höflich, und die Derwische auf der Bühne folgten seinem Beispiel. Dann standen alle Musiker gleichzeitig auf und entboten dem Herrscher einen hochachtungsvollen Gruß. Mit sichtlich zufriedener Miene gab Kai Chosrau einem seiner Leibwächter ein Zeichen, woraufhin dieser ihm flugs einen Samtbeutel reichte. Kai Chosrau wog den Beutel mehrmals in der Hand, um zu zeigen, wie schwer die Goldmünzen darin waren, und warf ihn schließlich auf die Bühne. Die Leute um mich herum seufzten und klatschten. Alle waren tief gerührt von der Großzügigkeit unseres Gebieters.
Selbstzufrieden wandte sich Kai Chosrau zum Gehen. Doch kaum hatte er einen Schritt auf den Ausgang zugemacht, da wurde der Beutel, den er auf die Bühne geworfen hatte, zurückgeschleudert. Klirrend wie die Armreifen einer frisch getrauten Braut landeten die Münzen vor seinen Füßen. Das Ganze war so schnell geschehen, dass wir alle eine volle Minute lang wie erstarrt dastanden, ohne uns in unserer Verwirrung erklären zu können, was eigentlich los war. Am erstauntesten aber war zweifellos Kai Chosrau selbst. Die Beleidigung war zu offensichtlich und in jedem Fall zu persönlich, als dass er darüber hätte hinweggehen können. Fassungslos warf er einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wer etwas so Entsetzliches getan haben könnte.
Es war Schams-e Tabrizi. Alle Blicke richteten sich auf ihn, der, die Arme in die
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