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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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schon, Schams, lass mich nicht so lange warten. Komm raus in den Hof!«
    Kein Laut. Keine Bewegung. Nichts.
    Da begann es auf einmal zu regnen. Von meiner Warte aus konnte ich über die schiefe Hofmauer blicken. In kürzester Zeit schüttete es so, dass sich die Straßen in reißende Bäche verwandelten und ich völlig durchnässt war.
    »Verdammt!«, sagte ich. »Verdammt, verdammt!«
    Ich spielte schon mit dem Gedanken, es für diese Nacht bleiben zu lassen, als ich ein lautes Geräusch hörte, das den auf Dächer und Straßen prasselnden Regen übertönte. Jemand war in den Hof getreten.
    Es war Schams-e Tabrizi. Mit einer Öllampe in der Hand ging er in meine Richtung und blieb nur ein paar Schritte vor dem Strauch stehen, hinter dem ich mich verbarg.
    »Eine wundervolle Nacht, nicht wahr?«, sagte er.
    Das stürzte mich in solche Verwirrung, dass ich die Luft anhielt. War noch jemand bei ihm oder redete er mit sich selbst? Wusste er, dass ich da war? Konnte es sein, dass er es spürte? Die Gedanken schossen nur so durch meinen Kopf.
    Aber dann fiel mir etwas auf. Wie konnte die Lampe in seiner Hand trotz des stürmischen Winds und des starken Regens weiterbrennen? Kaum hatte ich mich das gefragt, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.
    Mir kamen die Gerüchte über Schams in den Sinn. Er beherrsche die schwarze Magie so gut, hieß es, dass er jeden Menschen in einen schreienden Esel oder eine blinde Fledermaus verwandeln konnte, indem er ganz einfach einen Faden aus der Kleidung dieses Menschen verknotete und dabei seine bösen Gesänge anstimmte. Ich hatte diesen Unsinn zwar nie geglaubt und wollte auch jetzt nicht damit anfangen, aber als ich die Flamme seiner Lampe im Sturzregen flackern sah, zitterte ich so, dass ich nicht mehr still stehen konnte.
    »Ich hatte vor Jahren einen Meister in Täbris.« Schams stellte die Lampe auf den Boden, wo ich sie nicht mehr im Blick hatte. »Er lehrte mich, dass alles seine Zeit hat. Das ist eine der letzten Regeln.«
    Von welchen Regeln sprach er? Was redete er Geheimnisvolles daher? Ich musste ganz schnell entscheiden, ob ich sofort hinter dem Strauch hervorkommen oder warten sollte, bis er mir den Rücken zukehrte – was er allerdings nicht tat. Wenn er wusste, dass ich da war, brauchte ich mich nicht mehr zu verstecken. Wusste er es nicht, musste ich den Moment meines Erscheinens gut abwägen.
    Doch dann wurde meine Verwirrung noch größer: Ich bemerkte die Umrisse der drei Männer, die draußen vor der Gartenmauer unruhig unter einem Vordach warteten und sich offenbar darüber wunderten, dass ich noch immer keine Anstalten gemacht hatte, den Derwisch zu töten.
    »Es ist die Regel Nummer siebenunddreißig«, fuhr Schams fort. »Gott ist ein sorgfältiger Uhrmacher. Seine Ordnung ist so vollkommen, dass alles auf der Welt genau zu Seiner Zeit geschieht, keine Minute zu spät und keine Minute zu früh. Und Seine Uhr geht für ausnahmslos jeden Menschen ganz genau. Für jeden gibt es eine Zeit zu lieben und eine Zeit zu sterben.«
    Da verstand ich, dass er zu mir sprach. Er wusste, dass ich da war. Er hatte es schon gewusst, bevor er in den Hof gekommen war. Mein Herz begann zu rasen. Mir war, als würde die Luft um mich herum aufgesogen. Es war sinnlos, sich noch länger zu verstecken. Im Nu war ich auf den Beinen und trat hinter dem Strauch hervor. So plötzlich der Regen eingesetzt hatte, so plötzlich hörte er jetzt auf, und alles lag in tiefer Stille. Wir standen einander gegenüber, der Mörder und das Opfer, und obwohl das Ganze so merkwürdig war, wirkte alles ganz normal, ja fast friedlich.
    Ich zog mein Schwert und schwang es mit aller Kraft. Der Derwisch wich dem Hieb mit einer Geschmeidigkeit aus, die ich bei einem Mann seiner Größe nicht erwartet hatte. Als ich noch einmal zuschlagen wollte, kam in der Dunkelheit Unruhe auf, und wie aus dem Nichts erschienen sechs Männer und griffen den Derwisch mit Knüppeln und Lanzen an. Offenbar hatten die drei jungen Burschen irgendwelche Freunde mitgebracht. Der Kampf, der nun folgte, war so heftig, dass alle zu Boden stürzten, sich abrollten, sich wieder aufrappelten, abermals fielen und eine Lanze nach der anderen zersplitterte.
    Zornig und bestürzt sah ich zu. Nur Zeuge eines Mordes zu sein, den ich für Geld selbst hätte ausführen sollen, war mir noch nie untergekommen. Ich war so wütend auf diese drei unverschämten jungen Kerle, dass ich fast den Derwisch hätte laufen lassen, um stattdessen gegen

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