Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Fassungslosigkeit überwunden hatte.
»Die Ärzte geben mir noch sechzehn Monate«, erwiderte Aziz so leichthin wie bestimmt. »Vielleicht irren sie sich ja. Oder auch nicht. Aber das kann ich nicht wissen. Ich kann dir nur die reine Gegenwart geben, verstehst du, Ella? Mehr habe ich nicht. In Wahrheit hat niemand mehr als das. Es tun nur alle so, als ob es anders wäre.«
Ella blickte auf ihre Füße und neigte sich zur Seite, so als wäre sie kurz davor zusammenzubrechen, würde sich aber gleichzeitig zusammenreißen. Tränen traten ihr in die Augen.
»Bitte nicht weinen! Ich würde nichts lieber tun, als dich nach Amsterdam mitzunehmen. Ich hätte so gern gesagt: ›Komm, wir reisen gemeinsam durch die Welt, sehen uns ferne Länder an, lernen andere Menschen kennen und bewundern gemeinsam Gottes Schöpfung!‹«
»Das wäre so schön«, sagte Ella schniefend wie ein Kind, dem man, während es bitterlich weint, ein buntes Spielzeug hinhält.
Aziz’ Miene verdüsterte sich. Er schaute für einen Moment zum Fenster.
»Aber ich hatte Angst, dich darum zu bitten. Ich hatte sogar Angst davor, dich zu berühren, geschweige denn, mit dir zu schlafen. Wie könnte ich dich bitten, mit mir zu gehen und deine Familie zu verlassen, wenn du mit mir keine Zukunft hast?«
Ella erschauderte bei der Frage. »Warum so pessimistisch? Du kannst gegen die Krankheit kämpfen. Du kannst es für mich tun. Für uns.«
»Warum müssen wir immer alles bekämpfen?«, wollte Aziz wissen. »Immer heißt es, die Inflation muss bekämpft werden, Aids muss bekämpft werden, Krebs, die Korruption, der Terrorismus, sogar die überflüssigen Kilos – alles muss bekämpft werden … Kann man denn mit diesen Dingen nicht auch anders umgehen?«
»Ich bin kein Sufi«, gab Ella ungeduldig zurück. Ihre Stimme klang heiser und wie die eines Menschen, der viel älter war als sie.
Ihr ging in diesem Moment so vieles durch den Kopf: der Tod ihres Vaters, der Schmerz nach dem Selbstmord eines geliebten Menschen, die vielen Jahre voller Kummer und Verbitterung, die darauf gefolgt waren und in denen sie noch die kleinste Erinnerung an ihren Vater danach durchsucht hatte, ob vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn sie nur irgendetwas anders gehandhabt hätte.
»Ich weiß, dass du kein Sufi bist.« Aziz lächelte. »Und du musst auch keiner sein. Sei einfach Rumi. Das ist das Einzige, worum ich dich bitte.«
»Was soll das heißen?«
»Du hast mich vor einiger Zeit gefragt, ob ich Schams bin, erinnerst du dich? Du sagtest, ich würde dich an ihn erinnern. Es hat mich zwar gefreut, das zu hören, aber ich kann nicht Schams sein. Er war mir weit überlegen. Aber du kannst Rumi sein. Wenn du dich von der Liebe erfassen und dich von ihr verändern lässt, zuerst durch ihre Anwesenheit und dann durch ihre Abwesenheit …«
»Ich bin keine Dichterin!«
»Auch Rumi war kein Dichter. Aber er wurde in einen Dichter verwandelt.«
»Begreifst du das denn nicht? Mein Gott, ich bin eine gewöhnliche Hausfrau mit drei Kindern«, rief Ella atemlos.
»Wir alle sind, was wir sind«, murmelte Aziz. »Und wir unterliegen alle dem Wandel. Wer von hier nach dort will, muss eine Reise machen. Du kannst diese Reise antreten. Und wenn du mutig genug bist und ich mutig genug bin, können wir zum Schluss gemeinsam nach Konya fahren. Ich möchte dort sterben.«
Ella stockte der Atem. »Hör auf, so zu reden!«
Aziz betrachtete sie eine Weile, dann senkte er den Blick. Ein neuer Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht, ein neuer Ton in seine Stimme, als würde er davongeweht wie ein trockenes, dem Wind ausgeliefertes Blatt.
»Oder du gehst nach Hause, Ella«, sagte er langsam. »Zurück zu deinen Kindern und zu deinem Haus. Du entscheidest, meine Herzliebste. Und wie immer deine Entscheidung ausfällt, ich werde sie respektieren und dich lieben, bis zum Schluss.«
SULEIMAN, DER SÄUFER
KONYA, MÄRZ 1248
B lut, Schweiß und Tränen. Wer uns nicht kennt, denkt immer, Säufer wären faul und hätten nichts Besseres zu tun. Sie wissen ja nicht, wie anstrengend es ist, jeden Tag mehr und noch mehr Wein zu trinken. Wir tragen das Gewicht der Welt auf unseren Schultern.
Müde und verdrießlich döste ich, den Kopf auf dem Tisch, und träumte etwas nicht gerade Angenehmes. Ich träumte von einem großen schwarzen, höllisch wütenden Stier, der mich durch unbekannte Straßen jagte. Ich rannte vor ihm davon, ohne zu wissen, wodurch ich ihn gereizt hatte, warf
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