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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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leeren Highway dahinrast. Es wäre bestimmt toll, von so einem Typen als Tramperin mitgenommen zu werden.
    Ella fragte sich, was Schams wohl aus ihrer Hand lesen würde. Würde er ihr erklären, warum sich ihr Gemüt hin und wieder in einen Hexenkessel dunkler Gedanken verwandelte? Oder warum sie sich trotz ihrer großen, liebevollen Familie so einsam fühlte? Welche Farben hatte sie wohl in ihrer Aura? Helle, kräftige? War überhaupt irgendetwas in ihrem Leben in letzter Zeit hell und kräftig gewesen? Oder überhaupt je?
    In diesem Augenblick, allein am Küchentisch und nur noch vom schwachen Lichtschein aus dem Ofen beleuchtet, begriff Ella jäh, dass sie sich – auch wenn sie es noch so heftig abstritt und sosehr es ihr auch gelang, ihre Gefühle im Zaum zu halten – nach Liebe sehnte.

SCHAMS
    EIN GASTHOF AM RANDE DER STADT SAMARKAND, MÄRZ 1242
    B eschwert von Einsamkeit und tief in ihre Träume versunken schliefen im oberen Stockwerk des Gasthofs mehr als ein Dutzend müde Reisende. Ich stieg über nackte Füße und bloße Hände, um zu meinem noch zusammengerollten, nach Schweiß und Moder stinkenden Bettzeug zu gelangen. Dann lag ich im Dunkeln, dachte über die Ereignisse des Tages nach und fragte mich, ob ich möglicherweise irgendein göttliches Zeichen erhalten hatte, das meiner Aufmerksamkeit durch Dummheit und Hast entgangen war.
    Schon als kleiner Junge hatte ich Visionen gehabt und Stimmen gehört. Ständig sprach ich mit Gott, und immer gab er mir Antwort. An manchen Tagen stieg ich leicht wie ein Flüstern bis in den siebten Himmel empor. Dann wieder stieg ich in die tiefsten Tiefen hinab, war umgeben von den Gerüchen der Erde und verborgen wie ein unter mächtigen Eichen und Kastanien vergrabener Felsblock. Hin und wieder verlor ich meinen Appetit und aß tagelang nichts. Das alles machte mir keine Angst, aber ich lernte im Lauf der Zeit, es anderen gegenüber nicht zu erwähnen. Die Menschen pflegen zu verachten, was sie nicht verstehen können. Ich hatte es am eigenen Leib erfahren.
    Der Erste, der meine Visionen verkannte, war mein Vater. Mit etwa zehn Jahren begann ich täglich meinen Schutzengel zu sehen und war so naiv zu glauben, bei allen anderen wäre das genauso. Eines Tages erzählte ich meinem Vater von meinem Schutzengel, als er mir gerade beibrachte, eine Zedernholztruhe zu schreinern, denn ich sollte Tischler werden wie er.
    »Du hast eine blühende Fantasie, mein Sohn«, sagte er trocken. »Aber die behältst du besser für dich. Wir wollen die Nachbarn nicht schon wieder verärgern.«
    Einige Tage zuvor hatten sich die Nachbarn bei meinen Eltern über mich beschwert und mich beschuldigt, merkwürdige Dinge zu tun und den anderen Kindern Angst zu machen.
    »Ich verstehe dich einfach nicht, Sohn. Warum kannst du nicht einsehen, dass du nicht außergewöhnlicher bist als deine Eltern?«, sagte mein Vater. »Jedes Kind schlägt nach seinem Vater und seiner Mutter, und bei dir ist das nicht anders.«
    Da wurde mir bewusst, dass mir meine Eltern fremd waren, wie sehr ich sie auch liebte und mich nach ihrer Liebe sehnte.
    »Ich stamme aus einem anderen Ei als deine anderen Kinder, Vater. Stell es dir so vor, als wäre ich ein Entenküken, das von Hennen aufgezogen wurde. Ich bin kein zahmer Vogel, der sein Leben im Hühnerstall verbringt. Das Wasser, das dich schreckt, verjüngt mich. Denn im Gegensatz zu dir kann ich schwimmen, und ich werde schwimmen. Meine Heimat ist der Ozean. Wenn du ebenso empfindest, dann komm mit zum Meer. Wenn nicht, dann lass mich in Ruhe und geh zurück in den Hühnerstall.«
    Mein Vater riss die Augen auf und zog sie dann zu schmalen Schlitzen zusammen. Sein Blick war kühl. »Wenn du heute so mit deinem Vater redest«, sagte er ernst, »dann frage ich mich, wie du erst mit deinen Feinden redest, wenn du erwachsen bist.«
    Zum großen Kummer meiner Eltern verschwanden die Visionen nicht, als ich älter wurde, sondern wurden im Gegenteil noch eindringlicher und ergreifender. Meine Eltern beunruhigte das, und ich fühlte mich schuldig, weil ich sie damit so sehr aufbrachte, aber ich wusste wirklich nicht, wie ich den Visionen ein Ende setzen sollte, und wenn ich es gewusst hätte, hätte ich es wahrscheinlich nicht getan. Schon bald verließ ich mein Elternhaus für immer. Seither ist Tabriz für mich ein sanftes Wort voller Süße, so zart und fein, dass es auf der Zunge zergeht. Drei Gerüche begleiten meine Erinnerung an diese Stadt: der Geruch von

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