fest, würden wir uns begegnen. Dann würde ich erfahren, warum seine gütigen haselnussbraunen Augen für immer traurig blickten und ich in einer Vorfrühlingsnacht ermordet worden war.
ELLA
NORTHAMPTON, 19. MAI 2008
B evor die Sonne untergegangen und die Familie wieder zu Hause war, steckte Ella ein Lesezeichen in das Manuskript und legte Süße Blasphemie beiseite. Sie wollte mehr über den Mann erfahren, der den Roman geschrieben hatte, ging ins Internet und googelte »A.Z. Zahara«. Sie war gespannt, ohne allzu viel zu erwarten.
Zu ihrer Überraschung hatte er einen eigenen Blog. Die Seite war violett und türkisgrün gehalten, und ganz oben drehte sich eine männliche Gestalt in einem langen weißen Gewand langsam um die eigene Achse. Ella hatte noch nie einen tanzenden Derwisch gesehen und studierte ihn gründlich. Der Blog hieß »Eine Eierschale namens Leben«, darunter stand ein Gedicht mit demselben Titel:
Nehmen wir einander zum Gefährten!
Sitzen wir einander zu Füßen!
In uns ist eine Vielzahl von Klängen – glaub nicht
Dass wir nur sind, was wir sehen.
Die Seite war voller Ansichtskarten und Sehenswürdigkeiten aus den verschiedensten Ländern. Unter den Postkarten standen Kommentare zu den jeweiligen Orten. Als Ella sie las, fand sie drei Hinweise, die sofort ihre Aufmerksamkeit weckten: Erstens, dass das A in A.Z. Zahara die Abkürzung von Aziz war, zweitens, dass Aziz sich als Sufi bezeichnete, und drittens, dass er gerade in Guatemala unterwegs war.
In einem anderen Abschnitt des Blogs waren von ihm geschossene Fotos zu sehen, vorwiegend Porträts von Menschen jeglicher Hautfarbe. So unterschiedlich sie auch waren, in einem Punkt ähnelten sie sich auf merkwürdige Weise, denn es waren nur Menschen abgebildet, denen ganz offensichtlich etwas fehlte. Manchen etwas ganz Banales wie ein Ohrring, ein Schuh oder ein Knopf, anderen aber etwas viel Wesentlicheres wie ein Zahn, ein Finger oder auch ein Bein. Unter den Fotos war zu lesen:
Wer wir auch sind und wo wir auch leben, tief im Inneren fühlen wir uns alle unvollkommen! Als hätten wir etwas verloren und müssten es wiederfinden. Aber was das ist, ergründen die meisten von uns nie. Und nur eine Minderheit derjenigen, die es ergründen, macht sich auf den Weg und sucht danach.
Ella scrollte die Seite hinauf und hinunter, vergrößerte per Klick jede Ansichtskarte und las alle Kommentare, die Aziz dazu verfasst hatte. Ganz unten auf der Seite stand eine E-Mail-Adresse –
[email protected] –, die sie sich auf einem Zettel notierte. Daneben stand ein Gedicht von Rumi:
Wähl die Liebe, die Liebe! Ohne das süße Leben der
Liebe ist das Leben eine Last – du hast es ja erfahren.
Beim Lesen des Gedichts kam Ella ein völlig abwegiger Gedanke. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, als wäre alles, was in Aziz Z. Zaharas Blog stand – die Fotos, die Kommentare, die Zitate und die Gedichte – einzig und allein für ihre Augen gedacht. Es war ein sonderbarer Gedanke, ein hochmütiger noch dazu, und doch leuchtete er ihr vollkommen ein.
Am Spätnachmittag saß sie müde und ein bisschen traurig am Fenster. Die Sonne schien ihr auf den Rücken, und die Küche war erfüllt vom Duft der Brownies, die sie gerade in den Ofen geschoben hatte. Süße Blasphemie lag aufgeschlagen vor ihr, aber Ella ging so viel durch den Kopf, dass sie sich nicht auf das Manuskript konzentrieren konnte. Ihr war eingefallen, dass vielleicht auch sie einige Grundregeln aufschreiben und sie »Die vierzig Regeln der gut geerdeten tüchtigen Hausfrau« nennen sollte.
»Regel Nummer eins«, murmelte sie. »Hör auf, die Liebe zu suchen! Hör auf, unmöglichen Träumen hinterherzurennen! Im Leben einer bald vierzigjährigen verheirateten Frau gibt es wahrlich Wichtigeres.«
Doch der Scherz ließ sie sofort an ebendiese Sorgen denken und rief ein tiefes Unbehagen in ihr hervor. Schließlich konnte sie nicht anders, als die Telefonnummer ihrer älteren Tochter zu wählen. Nur der Anrufbeantworter meldetete sich.
»Jeannette, Liebes, ich weiß, es war falsch, Scott anzurufen. Aber ich hatte nichts Böses im Sinn. Ich wollte nur, dass …«
Sie stockte und bereute es sehr, sich ihre Worte nicht vorher zurechtgelegt zu haben. Im Hintergrund war das leise Rauschen des Bandes zu hören. Die Vorstellung, dass es spulte und spulte und die Zeit immer knapper wurde, machte sie nervös.
»Jeannette, bitte verzeih mir, was ich da angerichtet habe. Ich weiß, ich darf