Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
frisch geschlagenem Holz, von Mohnbrot und der weiche, frische Duft des Schnees.
Seitdem bin ich ein Wanderderwisch. Ich schlafe nie zweimal am selben Ort, esse nie zweimal hintereinander aus derselben Schüssel, sehe jeden Tag neue Gesichter. Wenn ich Hunger habe, verdiene ich mir ein paar Münzen, indem ich Träume deute. So durchstreife ich den Osten und den Westen auf der Suche nach Gott, nach einem lebenswerten Leben und nach wissenswertem Wissen. Weil ich nirgends verwurzelt bin, kann ich überallhin.
Alle möglichen Wege habe ich auf meinen Reisen eingeschlagen, von belebten Handelsstraßen bis hin zu vergessenen Pfaden, auf denen man tagelang keiner Menschenseele begegnet. Von der Schwarzmeerküste zu den Städten Persiens, von den weiten Landstrichen Zentralasiens zu den Sanddünen Arabiens habe ich dichte Wälder, flache Steppen und große Wüsten durchwandert; habe in Karawansereien und Herbergen genächtigt, mich in uralten Bibliotheken mit Gelehrten besprochen, Lehrern gelauscht, die in den Maktabs kleine Kinder unterrichteten, in mehr als einer Madrasa mit Studenten über Tafsir und Logik disputiert, Tempel, Klöster und Schreine aufgesucht, mit Eremiten in ihren Höhlen meditiert, mit Derwischen den Dhikr ausgeführt, mit Weisen gefastet und mit Andersgläubigen geschmaust, mit Schamanen unter dem Vollmond getanzt, Menschen jeglichen Glaubens, Alters und Berufs kennengelernt und Unglück, aber auch Wunder erlebt.
Ich habe verarmte Dörfer gesehen, vom Feuer geschwärzte Felder und geplünderte Städte, deren Flüsse sich rot gefärbt hatten und deren älteste männliche Einwohner Zehnjährige waren. Ich habe das Schlimmste und das Beste im Menschlichen gesehen. Mich erstaunt nichts mehr.
Während ich all diese Erfahrungen machte, begann ich eine Liste zusammenzustellen, die in kein Buch eingeschrieben wurde, sondern nur in meine Seele. Diese meine Liste nannte ich »Die Grundprinzipien der islamischen Wandermystiker«. Diese Prinzipien waren für mich so universell, so fest und unabänderlich wie die Naturgesetze. In ihrer Gesamtheit bildeten sie »Die vierzig Regeln der Religion der Liebe«, die durch Liebe und nur durch Liebe angenommen werden kann. Und eine dieser Regeln lautete: Der Weg zur Wahrheit ist eine Arbeit des Herzens, nicht des Kopfes. Mach dein Herz, nicht deine Gedanken zu deinem wichtigsten Führer! Begegne deiner Nafs mit dem Herzen, stell sie mit deinem Herzen in Frage und überwinde sie schließlich mit dem Herzen. Die Erkenntnis deines Ichs wird dich zur Erkenntnis Gottes führen.
Erst nach Jahren war die Arbeit an diesen Regeln, allen vierzig, abgeschlossen. Und als ich fertig war, wusste ich, dass ich mich der letzten Stufe meines weltlichen Daseins näherte. Seit einiger Zeit hatte ich häufig Visionen, die in diese Richtung deuteten. Ich hatte keine Angst vor dem Tod, den ich ja nicht als ein Ende betrachtete, sondern fürchtete zu sterben, ohne ein Erbe zu hinterlassen. In meiner Brust drängten sich die Worte, Geschichten wollten erzählt sein. Ich wollte all dieses Wissen an einen einzigen anderen Menschen weiterreichen, aber nicht an einen Meister und auch an keinen Schüler. Ein Ebenbürtiger sollte es sein – ein Gefährte.
»Gott«, flüsterte ich in den dunklen, feuchten Raum hinein, »mein ganzes Leben lang habe ich auf Deinem Pfad die Welt durchstreift. Jeder Mensch war ein offenes Buch für mich, ein wandelnder Koran. Oftmals mied ich die Elfenbeintürme der Gelehrten und verbrachte meine Zeit lieber mit den Ausgestoßenen, den aus der Heimat Vertriebenen und Verbannten. Jetzt drohe ich zu zerbersten. Hilf mir, Deine Weisheit an den Richtigen weiterzugeben. Danach kannst Du nach Deinen Wünschen mit mir verfahren.«
Da erstrahlte der Raum vor meinen Augen in einem so gleißenden Licht, dass sich die Gesichter der Reisenden in ihren Betten grellblau verfärbten. Die Luft roch plötzlich frisch und lebendig, als wären alle Fenster aufgerissen worden und ein stürmischer Wind trüge den Duft von Lilien und Jasmin aus fernen Gärten herein.
»Geh nach Bagdad«, sagte mein Schutzengel in wisperndem Singsang.
»Was erwartet mich dort?«, fragte ich ihn.
»Du hast um einen Gefährten gebeten, und dir wird ein Gefährte geschenkt. In Bagdad wirst du den Meister finden, der dir den rechten Weg weist.«
Tränen der Dankbarkeit stiegen mir in die Augen, und ich erkannte, dass der Mann in meiner Vision mein spiritueller Gefährte war. Früher oder später, das stand
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