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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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mich nicht beklagen, ich muss mich glücklich schätzen. Aber ich bin einfach so … so … unglücklich …«
    Klick. Der Anrufbeantworter schaltete sich aus. Ellas Herz verkrampfte sich vor Schreck über das, was sie eben gesagt hatte. Was war bloß in sie gefahren? Bis eben hatte sie nicht einmal gewusst, dass sie unglücklich war. Konnte man depressiv sein, ohne es zu merken? Unglück darüber, ihr Unglücklichsein eingestanden zu haben, empfand sie merkwürdigerweise nicht. Aber empfunden hatte sie in letzter Zeit sowieso kaum mehr irgendetwas.
    Ihr Blick fiel auf den Zettel mit Aziz Z. Zaharas E-Mail-Adresse. Es war eine einfache, bescheidene, irgendwie einladende Adresse. Ohne groß nachzudenken, setzte sie sich an den Computer und schrieb eine E-Mail:
    Lieber Aziz Z. Zahara,
    ich heiße Ella und lese gerade in meiner Eigenschaft als Gutachterin für eine Literaturagentur Ihren Roman Süße Blasphemie . Ich bin noch nicht weit gekommen, aber er gefällt mir sehr. Das ist allerdings meine persönliche Meinung und sagt nichts über die Einschätzung meiner Chefin aus. Ob mir Ihr Roman gefällt oder nicht hat so gut wie keinen Einfluss auf die Entscheidung, ob wir Sie als Autor vertreten.
    Offenbar halten Sie die Liebe für die Essenz des Lebens und glauben, dass nichts anderes zählt. Ich will hier keine Diskussion über dieses Thema mit Ihnen anfangen, denn das würde zu nichts führen, sondern nur sagen, dass ich Ihnen nicht ganz zustimmen kann. Aber das ist nicht der Grund meines Schreibens.
    Ich wende mich an Sie, weil das »Timing« meiner Lektüre von Süße Blasphemie nicht grotesker sein könnte. Im Moment versuche ich nämlich, meine ältere Tochter davon abzubringen, so jung zu heiraten. Gestern bat ich ihren Freund, die Heiratspläne zu begraben. Jetzt hasst mich meine Tochter und spricht nicht mehr mit mir. Ich habe das Gefühl, Sie und Jeannette würden sich gut verstehen, denn die Auffassung von Liebe scheint bei Ihnen und ihr fast dieselbe zu sein.
    Bitte entschuldigen Sie, dass ich meine persönlichen Probleme vor Ihnen ausbreite, was ich eigentlich gar nicht vorhatte. In Ihrem Blog (wo ich auch Ihre Mail-Adresse gefunden habe) heißt es, Sie seien zur Zeit in Guatemala. Es muss toll sein, in der Welt herumzureisen. Sollten Sie einmal nach Boston kommen, könnten wir uns vielleicht persönlich kennenlernen und uns bei einer Tasse Kaffee unterhalten.
    Mit allen guten Wünschen
    Ella
    Ihre erste E-Mail an Aziz war weniger ein Brief als eine Einladung, ein Hilferuf. Aber das konnte Ella nicht wissen, als sie in der Stille ihrer Küche saß und eine Nachricht an einen unbekannten Autor verfasste, dem sie, wie sie glaubte, weder demnächst noch in Zukunft begegnen würde.

DER MEISTER
    BAGDAD, APRIL 1242
    B agdad nahm von der Ankunft des Schams-e Tabrizi keine Notiz, aber ich werde den Tag, an dem er im bescheidenen Haus unseres Derwischordens erschien, nie vergessen. Wir hatten wichtige Gäste an diesem Nachmittag. Der Hohe Richter war mit einigen seiner Leute vorbeigekommen, und wie ich vermutete, steckte hinter diesem Besuch mehr als nur Höflichkeit. Der Richter, dessen Abneigung gegen den Sufismus bekannt war, wollte mir in Erinnerung bringen, dass er ein Auge auf uns hatte, so wie er ein Auge auf alle Sufis in der Gegend hatte.
    Der Richter war ein ehrgeiziger Mensch. Er hatte ein breites Gesicht, eine herabhängende Wampe und kurze, dicke Finger, und einen jeden schmückte ein wertvoller Ring. Er hätte sich beim Essen wirklich mäßigen sollen, aber wahrscheinlich fand niemand den Mut, ihm das zu sagen, nicht einmal sein Arzt. Da er einer langen Ahnenreihe religiöser Gelehrter entstammte, war er einer der einflussreichsten Männer in unserer Gegend. Mit einem einzigen Richterspruch konnte er einen Mann an den Galgen bringen, aber ebenso mühelos einen Missetäter begnadigen und aus den dunkelsten Verliesen wieder ans Licht des Tages holen. Stets in Mäntel aus Pelz und teure Kleider gewandet, strahlte er die Erhabenheit eines Mannes aus, der um seine Macht und sein Ansehen weiß. Ich billigte seine Aufgeblasenheit nicht, bemühte mich aber unserer Bruderschaft zuliebe nach Kräften um ein Auskommen mit diesem einflussreichen Menschen.
    »Wir leben in der prachtvollsten Stadt der Welt«, verkündete er und schob sich eine Feige in den Mund. »Bagdad ist überschwemmt von Deserteuren aus der Mongolenarmee, und wir bieten ihnen sichere Zuflucht. Denkst du nicht auch, dass wir der Nabel der Welt

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