Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Raum zu bitten, da hörte ich ihn schon sagen: »Es gibt eine Regel, die für genau diese Lage gilt.«
»Welche Regel?«, fragte der Richter argwöhnisch.
Schams-e Tabrizi richtete sich auf, blickte starr geradeaus, als läse er aus einem unsichtbaren Buch, und verkündete:
»Jeder Leser versteht den Heiligen Koran auf seine eigene Weise, je nach der Tiefe seines Verstandes. Es gibt vier Stufen der Erkenntnis. Die erste ist die äußere Bedeutung; mit ihr geben sich die meisten Menschen zufrieden. Die zweite ist Batini, die innere Stufe. Darauf folgt die innere der inneren Stufen. Und die vierte Stufe liegt so tief verborgen, dass sie sich nicht in Worte fassen lässt und daher unbeschreiblich bleibt.«
Mit funkelnden Augen fuhr Schams fort. »Gelehrte, die nur die Scharia im Blick haben, kennen die äußere Bedeutung. Sufis wissen um die innere Bedeutung. Heilige kennen die innere der inneren Stufe. Die vierte aber ist nur den Propheten zugänglich und denen, die Gott am nächsten stehen.«
»Soll das heißen, dass ein gewöhnlicher Sufi mehr vom Koran versteht als ein Scharia-Gelehrter?«, fragte der Richter, während er mit den Fingern auf eine Schüssel trommelte.
Auf den Lippen des Derwischs erschien die Andeutung eines spöttischen Lächelns, aber er erwiderte nichts.
»Vorsicht, mein Freund!«, sagte der Richter. »Dich trennt nur ein schmaler Grat von der reinen Blasphemie!«
Sollten diese Worte als Drohung gemeint gewesen sein, so schien der Derwisch diese nicht bemerkt zu haben. »Was genau ist denn ›reine Blasphemie‹?«, fragte er. Dann holte er tief Luft und fügte hinzu: »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.«
Und er erzählte uns folgende Geschichte:
Als Moses einmal allein durch die Berge streifte, sah er in der Ferne einen Schäfer. Der Mann kniete auf dem Boden und hatte die Hände betend zum Himmel erhoben. Moses war sehr erfreut. Doch als er näher kam und das Gebet des Schäfers hörte, verwandelte sich seine Freude in Bestürzung.
»Mein geliebter Gott, ich liebe Dich mehr, als Du wissen kannst. Ich werde alles für Dich tun, sprich nur ein Wort! Selbst wenn Du mich bätest, in Deinem Namen das fetteste Schaf meiner Herde zu schlachten, würde ich es ohne Zögern tun. Dann würdest Du es braten und sein Schwanzfett in Deinen Reis geben, um ihn geschmackvoller zu machen.«
Ganz langsam näherte Moses sich dem Schäfer und lauschte angestrengt.
»Und danach würde ich Dir die Füße waschen und Dir die Ohren putzen und Dir die Läuse entfernen. So sehr liebe ich Dich!«
Als Moses genug gehört hatte, unterbrach er den Schäfer. »Du Unwissender!«, schrie er. »Was bildest du dir ein? Glaubst du, Gott isst Reis? Glaubst du, Gott hat Füße, die du waschen könntest? Das ist kein Gebet, das ist reine Blasphemie!«
Verwirrt und beschämt entschuldigte sich der Schäfer vielmals und versprach, künftig so zu beten wie die anständigen Leute. Moses brachte ihm an diesem Nachmittag mehrere Gebete bei. Dann ging er, sehr mit sich zufrieden, weiter.
Doch in der Nacht hörte er eine Stimme. Es war die Stimme Gottes.
»Ach, Moses, was hast du getan? Du hast den armen Schäfer gescholten und nicht gesehen, wie lieb er Mir war. Er sagt vielleicht nicht das Richtige und nicht auf die richtige Weise, aber er meinte es ehrlich. Sein Herz war rein, er hatte die besten Absichten. Ich hatte Wohlgefallen an ihm. In deinen Ohren mögen seine Worte wie Blasphemie geklungen haben, aber für Mich waren sie süße Blasphemie.«
Moses sah seinen Fehler sofort ein. Am nächsten Tag ging er frühmorgens zurück in die Berge, um mit dem Schäfer zu sprechen. Und wieder traf er ihn betend an; nur betete er diesmal so, wie es ihm beigebracht worden war. Entschlossen, seine Sache richtig zu machen, stotterte er ganz ohne die Begeisterung und Leidenschaft seiner früheren Gebete vor sich hin. Moses bedauerte, was er ihm angetan hatte, klopfte ihm auf den Rücken und sagte: »Ich habe mich geirrt, mein Freund. Bitte vergib mir. Bete weiterhin nach deiner Art. Das ist in den Augen Gottes viel wertvoller.«
Den Schäfer verwunderte es, das zu hören, doch umso größer war seine Erleichterung. Aber zu seinen alten Gebeten wollte er nicht zurückkehren. Ebenso wenig befolgte er die formalen Gebete, die Moses ihn gelehrt hatte. Er hatte einen neuen Weg gefunden, um mit Gott zu sprechen, er war erfüllt und beglückt durch seine kindliche Andacht und hatte die frühere Stufe hinter sich gelassen – die
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