Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
ich.
Über das Gesicht des Derwischs huschte ein Schatten. Er nickte. »Oh ja – er war die ganze Zeit bei mir.«
Unverhohlen grinsend mischte sich nun der Richter ein. »Ich verstehe einfach nicht, warum ihr Derwische das Leben immer so kompliziert machen müsst. Wenn Gott sowieso bei dir war, warum hast du Ihn dann die ganze Zeit gesucht?«
Schams-e Tabrizi ließ nachdenklich den Kopf sinken und schwieg eine Weile. Als er den Blick wieder hob, waren seine Züge ruhig, und seine Stimme klang bedächtig. »Er kann zwar nicht gefunden werden, indem man Ihn sucht, aber nur die Ihn suchen, können Ihn finden.«
»Immer diese Wortspielereien«, maulte der Richter. »Soll das heißen, dass wir Gott nie finden können, wenn wir unser ganzes Leben lang an einem Ort bleiben? Das ist Unsinn! Nicht jeder hat es nötig, sich in Lumpen zu kleiden und loszuziehen wie du!«
Es erhob sich Gelächter, mit dem die Männer dem Richter ihre Zustimmung kundtun wollten – es war das helle, unsichere, freudlose Lachen von Menschen, die es gewohnt sind, vor Höherstehenden zu kriechen. Ich bekam ein mulmiges Gefühl. Den Richter und den Derwisch zusammenzubringen war wohl doch keine gute Idee gewesen.
»Du hast mich offenbar falsch verstanden. Ich habe nicht gesagt, man könne Gott nicht finden, wenn man an seinem Heimatort bleibt. Das ist durchaus möglich«, räumte der Derwisch ein. »Es gibt Menschen, die nie irgendwohin gereist sind und trotzdem die Welt gesehen haben.«
»Genau!« Der Richter grinste triumphierend. Doch das Grinsen verging ihm, als der Derwisch weitersprach.
»Eigentlich wollte ich damit sagen, dass man Gott nicht finden kann, solange man in einem Pelzmantel und einem Seidengewand steckt und teuren Schmuck trägt, so wie du heute, Richter.«
Verblüfftes Schweigen senkte sich nieder. Alle Laute und Seufzer um uns herum erstarben. Wir hielten die Luft an, als würde gleich etwas noch Gewaltigeres geschehen. Doch was hätte schockierender sein können?
»Deine Zunge ist zu spitz für einen Derwisch«, sagte der Richter.
»Wenn etwas gesagt werden muss, dann sage ich es, auch wenn mich die ganze Welt am Hals packt und mir Schweigen gebietet.«
Der Richter runzelte die Stirn, tat das Ganze dann aber mit einem Achselzucken ab. »Wie auch immer«, meinte er. »Du bist jedenfalls genau der Mann, den wir brauchen. Wir unterhielten uns gerade über die Pracht unserer Stadt. Du hast bestimmt viele Städte gesehen. Gibt es eine herrlichere als Bagdad?«
Schams ließ den Blick gemächlich von einem zum anderen wandern und antwortete: »Bagdad ist ohne Zweifel eine bemerkenswerte Stadt, aber keine Schönheit der Welt bleibt für immer bestehen. Städte werden auf spirituellen Säulen errichtet. Riesigen Spiegeln gleich sind sie ein Widerschein der Herzen ihrer Bewohner. Wenn diese Herzen sich verdunkeln und den Glauben verlieren, dann verlieren die Städte ihren Glanz. So ist es, und so geschieht es immer wieder.«
Ich konnte nicht umhin zu nicken. Schams-e Tabrizi schien kurz von seinen Gedanken abgelenkt zu sein; mit freundlich funkelnden Augen wandte er sich mir zu. Sein Blick ruhte auf mir wie die Hitze einer sengenden Sonne. In diesem Moment erkannte ich, wie sehr er seines Namens würdig war. Dieser Mann strahlte Leidenschaft aus, Lebendigkeit und ein inneres Feuer. Ja, er war Schams, »die Sonne«.
Der Richter sah das allerdings anders. »Ihr Sufis macht alles viel zu kompliziert, genau wie die Dichter und Philosophen! Warum so viele Worte? Menschen sind einfache Wesen mit einfachen Bedürfnissen. Den Herrschern obliegt es, diese Bedürfnisse zu stillen und dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht auf Irrwege geraten. Deshalb muss die Scharia auf das Genaueste angewendet werden.«
»Die Scharia ist wie eine Kerze«, erwiderte Schams-e Tabrizi. »Sie versorgt uns mit viel wertvollem Licht. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass uns eine Kerze dabei hilft, in der Dunkelheit von einem Ort zum anderen zu gelangen. Was nützt es, wenn wir vergessen, wohin wir wollen, und unsere Aufmerksamkeit stattdessen auf die Kerze richten?«
Die Miene des Richters verdüsterte sich, und mir wurde ganz bang zumute. Mit einem Mann über die Scharia zu streiten, dessen Aufgabe es war, Menschen gemäß der Scharia zu verurteilen und oft auch zu bestrafen, konnte gefährlich werden. War Schams sich nicht darüber im Klaren?
Ich suchte noch nach einem nicht völlig aus der Luft gegriffenen Vorwand, um den Derwisch aus dem
Weitere Kostenlose Bücher