Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
sind, Baba Zaman?«
»Diese Stadt ist ein Juwel, ganz zweifelsohne«, begann ich mit Bedacht. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Städte wie Menschen sind. Sie werden geboren, durchleben ihre Kindheit und Jugend, werden alt und sterben irgendwann. Im Augenblick befindet sich Bagdad in seiner späten Jugend. Wir sind nicht mehr so reich wie zu Zeiten des Kalifen Harun-ar Raschid, können aber immer noch stolz darauf verweisen, ein Zentrum des Handels, des Handwerks und der Dichtkunst zu sein. Doch wer weiß, wie es um die Stadt in tausend Jahren bestellt ist? Bis dahin kann sich alles völlig verändert haben.«
»Was soll die Schwarzseherei?« Der Richter schüttelte den Kopf, streckte den Arm nach einer anderen Schüssel aus und nahm sich eine Dattel. »Die Abbasiden werden weiterhin herrschen, es wird uns gutgehen. Aber natürlich nur, wenn der gegenwärtige Zustand nicht durch Verräter aus unseren eigenen Reihen ein Ende findet. Es gibt ja Leute, die sich zwar als Muslime bezeichnen, deren Auslegung des Islam jedoch weit gefährlicher ist als die Bedrohung durch Ungläubige.«
Ich beschloss zu schweigen. Es war kein Geheimnis, dass der Richter die Mystiker mit ihren individualistischen und esoterischen Auslegungen des Islam für Unruhestifter hielt. Er beschuldigte uns, die Scharia zu missachten und somit den Autoritäten – Männern wie ihm – keine Ehrfurcht zu zollen. Manchmal hatte ich das Gefühl, am liebsten würde er alle Sufis vor die Tore Bagdads setzen lassen.
»Deine Bruderschaft ist zwar harmlos, aber findest du nicht auch, dass manche Sufis es zu weit treiben?«, fragte der Richter und strich sich über den Bart.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Zum Glück klopfte es in diesem Moment an der Tür. Es war der rothaarige Novize. Er stürzte auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr, ein Besucher sei gekommen, ein Wanderderwisch, der darauf bestehe, zu mir vorgelassen zu werden, und mit keinem anderen sprechen wolle.
Unter anderen Umständen hätte ich den Novizen gebeten, den Neuankömmling in einen ruhigen Empfangsraum zu führen, ihm warme Speisen vorzusetzen und ihn dort warten zu lassen, bis die Gäste gegangen waren. Aber der Richter setzte mir so zu, dass ich bei mir dachte, vielleicht könnte ein Wanderderwisch mit seinen farbenprächtigen Erzählungen aus fernen Ländern die angespannte Atmosphäre ein wenig auflockern, und so forderte ich den Novizen auf, den Mann hereinzulassen.
Wenig später wurde die Tür geöffnet, und ein von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideter Mann trat ein. Schlank, ja hager, unbestimmbaren Alters, mit spitzer Nase, tiefliegenden pechschwarzen Augen und dunklem Haar, das ihm in großen Locken über die Augen fiel. Er trug einen langen Kapuzenumhang, ein wollenes Gewand und Schaffellstiefel. Seinen Hals zierte eine Kette mit zahlreichen Anhängern, und in der Hand hielt er eine Holzschale, wie sie die Bettelderwische bei sich tragen, um ihren Egoismus und ihre Selbstüberhebung zu besiegen, indem sie annehmen, was andere spenden. Offenkundig maß dieser Mann dem Urteil der Gesellschaft kaum Beachtung bei. Dass man ihn für einen Landstreicher oder sogar Bettler halten konnte, schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
Als er so vor mir stand und darauf wartete, sich vorstellen zu dürfen, wusste ich augenblicklich, dass er etwas Besonderes war. Ich erkannte es an den Augen, den eleganten Gesten – er strahlte es einfach aus. Wie eine Eichel, die dem unverständigen Blick schlicht und verletzlich erscheint, aber schon von der stolzen Eiche kündet, die sie einmal sein wird, sah er mich mit dem durchdringenden Blick seiner schwarzen Augen an und nickte schweigend.
»Willkommen in unserem Ordenshaus, Derwisch!« Ich bedeutete ihm, auf den Kissen mir gegenüber Platz zu nehmen.
Nachdem er alle begrüßt hatte, setzte sich der Derwisch und nahm der Reihe nach jeden in der Runde gründlich in Augenschein, bis sein Blick schließlich am Richter haften blieb. Eine volle Minute lang betrachteten sich die beiden Männer, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und unwillkürlich fragte ich mich, was diese so grundverschiedenen Menschen wohl voneinander dachten.
Ich bot dem Derwisch warme Ziegenmilch, gezuckerte Feigen und gefüllte Datteln an, doch er lehnte höflich ab. Als ich ihn nach seinem Namen fragte, stellte er sich als Schams-e Tabrizi vor und sagte, er sei ein Wanderderwisch auf der Suche nach Gott.
»Und – hast du Ihn gefunden?«, fragte
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