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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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hast du uns nicht gehört?«, fragte Orly ernstlich verwundert.
    »Du warst ja völlig vertieft in den Bildschirm«, bemerkte David, ohne sie anzusehen.
    Ella folgte seinem Blick. Das Mailprogramm war geöffnet, und vor ihr war, leicht abgedunkelt, Aziz Z. Zaharas E-Mail zu lesen. Blitzschnell klappte sie den Laptop zu, ohne ihn vorher auszuschalten.
    »Ich muss noch so viel für die Literaturagentur tun.« Sie verdrehte die Augen. »Ich habe gerade an meinem Gutachten gearbeitet.«
    »Stimmt nicht! Du hast deine Mails gecheckt«, stellte Avi ernst und sachlich fest.
    Warum waren Jungs im Teenageralter bloß immer darauf aus, die Schwächen und Lügen anderer offenzulegen?, fragte sich Ella. Doch zu ihrer Erleichterung schien der Rest der Familie nichts weiter darauf zu geben. Alle blickten erwartungsvoll auf die Küchentheke.
    Und Orly richtete stellvertretend für alle die eine Frage an sie: »Warum hast du uns heute kein Frühstück gemacht, Mom?«
    Jetzt schaute auch Ella zur Theke hinüber und sah, was die anderen längst bemerkt hatten. Kein Kaffee in Arbeit, kein Rührei auf dem Herd, kein Toast mit Marmelade. Sie nickte mehrmals, als würde sie einer inneren Stimme recht geben, die eine nicht zu leugnende Wahrheit aussprach.
    Tja, dachte sie, warum habe ich das Frühstück vergessen?

ZWEITER TEIL
    Wasser
    ALLES FLÜSSIGE, VERÄNDERLICHE, UNVORHERSEHBARE

RUMI
    KONYA, 15. OKTOBER 1244
    B einahe rund glänzte der prächtige Vollmond am Himmel wie eine riesige Perle. Ich verließ das Bett und sah durchs Fenster in den vom Mondlicht durchfluteten Hof. Doch nicht einmal der Anblick solcher Schönheit vermochte mein pochendes Herz und meine zitternden Hände zu beruhigen.
    »Du bist blass, Effendi. Hattest du wieder diesen Traum?«, flüsterte meine Frau. »Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?«
    Ich sagte ihr, sie solle sich nicht sorgen und weiterschlafen, sie könne nichts für mich tun. Unsere Träume seien Teil unseres Schicksals, und wir müssten ihnen ihren gottgewollten Lauf lassen. Außerdem, dachte ich bei mir, musste es ja einen Grund geben, weshalb ich seit vierzig Tagen den immer gleichen Traum träumte.
    Der Anfang des Traums war jedes Mal ein bisschen anders. Aber vielleicht war er ja immer gleich, und ich betrat ihn nur jede Nacht durch ein anderes Tor. Diesmal sah ich mich selbst in einem mit Teppichen ausgelegten Zimmer, das mir bekannt vorkam, in dem ich aber noch nie zuvor gewesen war. Ich las im Koran. Mir gegenüber saß ein Derwisch, ein großer, dünner Mann, der sich sehr gerade und aufrecht hielt. Sein Gesicht war verschleiert, und in der Hand hielt er einen Kandelaber mit fünf brennenden Kerzen, die mir das Licht zum Lesen spendeten.
    Nach einer Weile hob ich den Kopf, um dem Derwisch den eben gelesenen Vers zu zeigen, und erst in diesem Moment wurde mir zu meinem Schrecken bewusst, dass der vermeintliche Kandelaber in Wirklichkeit die rechte Hand des Mannes war. Er hatte mir die ganze Zeit hindurch seine Hand mit fünf brennenden Fingern entgegengestreckt.
    Entsetzt sah ich mich nach Wasser um, fand aber keines. Da zog ich meinen Umhang aus und warf ihn auf den Derwisch, um die Flammen zu ersticken. Doch als ich ihn wieder fortnahm, war der Mann verschwunden und hatte nur eine flackernde Kerze zurückgelassen.
    Von dieser Stelle an verlief der Traum immer gleich. Ich begann den Derwisch im Haus zu suchen, spähte in jeden Winkel. Dann lief ich in den Hof, wo die Rosen zu einem Meer von Hellgelb erblüht waren. Ich rief in alle Richtungen, aber der Mann war nirgends zu sehen.
    »Komm zurück, Geliebter. Wo bist du?«
    Schließlich trat ich, wie von einer unheilvollen Ahnung gelenkt, an den Brunnen und blickte auf das dunkle, aufgewühlte Wasser hinab. Zuerst sah ich nichts, doch dann warf der Mond seinen glänzenden Schein auf mich und tauchte den Hof in ein eigenartiges Licht, und ich sah die zwei schwarzen Augen, die mit einer Traurigkeit ohnegleichen vom Grund des Brunnens zu mir hinaufblickten.
    »Sie haben ihn umgebracht!«, rief jemand, vielleicht war ich es selbst. Vielleicht klang so meine Stimme im Zustand grenzenloser Pein.
    Und ich schrie und schrie, bis meine Frau mich umarmte und an ihren Busen drückte und leise fragte: »Effendi, war das wieder der Traum?«
    Als Kira in den Schlaf zurückgesunken war, schlich ich mich in den Hof. Ich war noch ganz erfüllt von dem so klaren und so beängstigenden Traumgefühl. In der nächtlichen Stille lief mir beim Anblick des Brunnens

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