Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
ein Schauder über den Rücken, aber ich konnte nicht anders, ich musste mich auf seinen Rand setzen und dem sanft durch die Bäume rauschenden Nachtwind lauschen.
In solchen Momenten überrollt mich eine jähe Woge der Traurigkeit, obwohl ich nie weiß, warum. In meinem Leben fehlt es an nichts, es ist ein erfülltes Leben, denn ich bin mit den drei Dingen gesegnet, die mir lieb und wert sind: mit Wissen, Tugend und der Begabung, anderen bei der Suche nach Gott zu helfen.
Ich bin nun achtunddreißig Jahre alt und habe mehr von Gott bekommen, als ich mir jemals hätte wünschen können. Ich wurde zum Prediger und zum Rechtsgelehrten ausgebildet und in die Kunde von der Göttlichen Erleuchtung eingeführt – in das Wissen, das den Propheten, den Heiligen und den Gelehrten mehr oder minder zuteil wird. Unterwiesen von meinem inzwischen verstorbenen Vater und unterrichtet von den besten Lehrern unserer Zeit, habe ich in der Überzeugung, dass Gott mir dies als Pflicht auferlegt hat, mit großem Fleiß an der Vertiefung meines Bewusstseins gearbeitet.
Mein alter Meister Seyyid Burhaneddin pflegte mich als einen Liebling Gottes zu bezeichnen, weil mir die ehrenvolle Aufgabe übertragen sei, Seinem Volk Seine Botschaft zu überbringen und den Menschen zu helfen, das Rechte vom Unrechten zu unterscheiden.
Seit vielen Jahren unterrichte ich in der Madrasa, disputiere dort mit anderen Scharia-Gelehrten über theologische Fragen, unterweise meine Schüler in der Rechtswissenschaft und den Hadithen und predige jeden Freitag in der größten Moschee der Stadt. Wie viele Schüler ich bereits unterrichtet habe, vermag ich nicht zu sagen. Es schmeichelt mir, wenn meine Predigtkunst gepriesen wird und die Menschen beteuern, meine Worte hätten in einer Zeit, da sie der Führung bedurften, ihr Leben verändert.
Ich bin mit einer liebevollen Familie, guten Freunden und mir ergebenen Schülern gesegnet. Niemals im Leben habe ich Elend erfahren oder Mangel gelitten, auch wenn der Verlust meiner ersten Frau entsetzlich war. Ich dachte, ich würde nie wieder heiraten, tat es aber doch und durfte dank Kira Liebe und Freude erleben. Meine beiden Söhne sind schon groß; allerdings erstaunt es mich immer von Neuem, wie unterschiedlich sie sind. Sie erinnern mich an zwei Samenkörner, die zwar nebeneinander in dieselbe Erde gepflanzt und von derselben Sonne und demselben Wasser genährt wurden, sich aber zu völlig verschiedenen Pflanzen entwickelt haben. Ich bin stolz auf sie, genau wie auf unsere angenommene Tochter, die ganz ungewöhnlich begabt ist. Ich bin in meiner Familie wie in der Gemeinde ein glücklicher und zufriedener Mensch.
Aber warum empfinde ich dann diese Lücke in mir, die Tag für Tag tiefer und breiter wird? Sie nagt wie eine Krankheit an meiner Seele und begleitet mich überallhin, leise wie eine Maus und ebenso gefräßig.
SCHAMS
KONYA, 17. OKTOBER 1244
B evor ich das Tor einer mir unbekannten Stadt durchschreite, warte ich einen Moment, um ihre Heiligen zu begrüßen – die toten und die lebenden, die bekannten und die verborgenen. Kein einziges Mal habe ich einen Fuß in einen neuen Ort gesetzt, ohne zuvor den Segen der Heiligen empfangen zu haben. Es ist mir gleich, ob es ein Ort der Moslems, Christen oder Juden ist. Ich glaube, dass die Heiligen über solch schlichten, nur die Bezeichnung betreffenden Unterscheidungen stehen. Ein Heiliger gehört allen Menschen.
Und so tat ich, als ich in der Ferne Konya erblickte, was ich immer tat. Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches. Anstatt mich wie sonst immer zurückzugrüßen und zu segnen, blieben die Heiligen stumm wie zerbrochene Grabsteine. Ich grüßte sie noch einmal, lauter und entschlossener, für den Fall, dass sie mich nicht gehört hatten. Und wieder blieb es still. Da wusste ich, dass mich die Heiligen sehr wohl gehört hatten. Aber sie verweigerten mir den Segen.
»Was ist los?«, fragte ich den Wind, damit er meine Worte zu den Heiligen nah und fern trug.
Nach einer Weile kehrte der Wind mit der Antwort zurück. »In dieser Stadt, Derwisch, wirst du nur zwei Extreme finden und nichts dazwischen: reine Liebe oder reinen Hass. Wir warnen dich. Du betrittst sie im Wissen um diese Gefahr.«
»Dann ist kein Grund zur Sorge«, erwiderte ich. »Solange mir dort reine Liebe begegnet, ist es gut genug für mich.«
Als sie das hörten, gaben mir die Heiligen von Konya ihren Segen. Aber noch wollte ich die Stadt nicht betreten. Ich setzte mich unter
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