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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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verhindern wollte, dass eines ihrer Kinder mit Süßkram oder anderem ungesunden Zeug in den Tag startete.
    Doch als Ella an diesem Morgen die Küche betrat, brühte sie keinen Kaffee auf, presste keine Orangen aus und steckte keine Brotscheiben in den Toaster, sondern setzte sich sofort an den Tisch, schaltete ihren Laptop ein, ging ins Internet und sah nach, ob Aziz ihr eine E-Mail geschrieben hatte. Ja, da war sie! Sie freute sich.
    Liebe Ella,
    wie schön zu hören, dass sich die Sache zwischen Ihnen und Ihrer Tochter zum Besseren gewendet hat.
    Gestern verließ ich bei Tagesanbruch das Dorf Momostenango. Komisch, ich war nur ein paar Tage dort, aber als es galt, Abschied zu nehmen, war ich traurig, geradezu tief betrübt. Würde ich dieses winzige Dorf in Guatemala je wiedersehen? Ich glaubte es nicht.
    Immer wenn ich mich von einem Ort, der mir gefällt, verabschieden muss, habe ich das Gefühl, etwas von mir zurückzulassen. Wahrscheinlich besteht das Leben ganz unabhängig davon, ob man ein Vielreisender wie Marco Polo ist oder niemals in die Ferne zieht, aus einer Abfolge von Geburten und Toden. Ein Moment entsteht, ein Moment vergeht. Damit neue Erfahrungen an den Tag kommen können, müssen alte verblühen. Sehen Sie das auch so?
    In Momostenango habe ich meditiert und versucht, mir Ihre Aura vorzustellen. Ziemlich schnell hatte ich drei Farben vor Augen: ein warmes Gelb, ein zartes Orange und ein dezentes metallisches Violett. Meinem Gefühl nach sind das Ihre Farben. Ich fand sie sowohl einzeln als auch zusammen sehr schön.
    Meine letzte Station hier in Guatemala ist Chajul, eine kleine Stadt mit Ziegelhäusern und Kindern, deren Augen viel mehr Weisheit ausstrahlen, als ihre Jahre vermuten lassen. In den Häusern sitzen Frauen jeden Alters und weben herrliche Wandteppiche. Ich bat eine alte Frau, einen auszusuchen, und sagte ihr, er sei für eine Dame, die in Northampton lebt. Sie sann eine Weile nach und zog dann einen Teppich aus dem riesigen Stapel hinter sich heraus. Dieser Stapel bestand, ich schwöre bei Gott, aus mehr als fünfzig Wandteppichen in allen erdenklichen Farben. Aber der, den sie ausgesucht hatte, wies nur drei Farben auf: Gelb, Orange und Violett. Ich dachte, dieser Zufall könnte Sie interessieren – falls es so etwas wie Zufall in Gottes Universum gibt.
    Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass unser Austausch vielleicht nicht auf Zufall beruht?
    Mit herzlichen Grüßen
    Aziz
    PS : Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen den Wandteppich per Post – oder wir warten, bis wir uns einmal auf einen Kaffee treffen und ich ihn persönlich übergeben kann.
    Ella schloss die Augen und versuchte sich die Farben ihrer Aura rings um ihr Gesicht vorzustellen. Seltsamerweise hatte sie sich dabei nicht als Erwachsene vor Augen, sondern als etwa siebenjähriges Kind.
    Erinnerungen strömten auf sie ein, Erlebnisse, mit denen sie längst meinte abgeschlossen zu haben. Ihre Mutter, wie sie reglos dasteht mit einer pistaziengrünen Schürze, einen Messbecher in der Hand, das Gesicht eine aschfahle Maske des Schmerzes. Papierherzen an den Wänden, glitzernd und bunt. Und ihr Vater, tot an der Decke baumelnd, wie um als Teil der Weihnachtsdekoration dem Haus ein festliches Aussehen zu geben. Sie dachte daran zurück, dass sie ihre Mutter im Teenageralter drei Jahre lang für den Selbstmord ihres Vaters verantwortlich gemacht hatte. Schon als kleines Mädchen hatte Ella sich geschworen, ihren Mann später immer glücklich zu machen und, anders als ihre Mutter, als Ehefrau niemals zu versagen. In ihrem Bemühen, in dieser Hinsicht möglichst alles anders als ihre Mutter zu machen, hatte sie keinen Christen, sondern einen Mann ihres eigenen Glaubens geheiratet.
    Erst ein paar Jahre zuvor hatte sie aufgehört, ihre alt gewordene Mutter zu hassen, und seit einiger Zeit kamen sie gut miteinander aus. Nichtsdestotrotz fühlte sie tief in ihrem Inneren noch immer ein Unbehagen, wenn sie an die Vergangenheit dachte.
    »Mom! … Erde an Mom! Erde an Mom!«
    Hinter Ella war Gekicher und Geflüster zu hören. Als sie sich umdrehte, sah sie vier amüsiert auf sie gerichtete Augenpaare. Orly, Avi, Jeannette und David waren ausnahmsweise einmal gleichzeitig zum Frühstück erschienen und beguckten sie nun wie Zoobesucher ein exotisches Tier. Ella hatte den Eindruck, dass sie schon länger so dastanden und auf sich aufmerksam zu machen versuchten.
    »Guten Morgen, meine Lieben«, sagte sie lächelnd.
    »Warum

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