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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Kontrollfreak Ella und das sanftmütige Lämmlein Ella. Und sie konnte nie vorhersagen, welche Ella von beiden wann die Oberhand haben würde.
    Aber es gab noch eine dritte Ella, eine, die still und leise alles beobachtete und darauf wartete, dass ihre Zeit kam. Und diese Ella sagte ihr, dass ihre Ruhe an Abgestumpftheit grenze, dass darunter aber ein ersticktes Ich mit einer starken Unterströmung aus Wut und Auflehnung existiere. Wenn sie so weitermache, warnte sie die dritte Ella, werde sie irgendwann explodieren. Es sei nur eine Frage der Zeit.
    Nachdem sie an diesem letzten Tag im Mai über all das nachgedacht hatte, tat Ella etwas, was sie schon lange nicht mehr gemacht hatte: Sie betete. Sie bat Gott, ihr entweder eine ihr ganzes Sein durchdringende Liebe zu schenken oder sie so hart im Nehmen und so gleichgültig zu machen, dass ihr die fehlende Liebe in ihrem Leben nichts mehr anhaben konnte.
    »Für welche der beiden Möglichkeiten Du Dich auch entscheidest, bitte mach es schnell!«, fügte sie noch hinzu. »Vielleicht hast Du es ja vergessen, aber ich bin schon vierzig. Und wie Du siehst, habe ich mich bisher nicht gut gehalten.«

DIE HURE WÜSTENROSE
    KONYA, 17. OKTOBER 1244
    B litzschnell rannte ich durch die enge Gasse, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Als ich endlich den belebten Basar erreicht hatte, war ich völlig außer Atem. Meine Lunge schmerzte, und mein Herz schlug bis zum Hals. Ich flüchtete mich hinter eine Mauer und brach fast zusammen. Erst jetzt fand ich den Mut, zurückzuschauen, und sah erstaunt und erleichtert, dass mir nur ein Mensch gefolgt war, nämlich Sesam. Atemlos blieb er neben mir stehen. Seine Arme hingen schlaff herab, er war verwirrt und verängstigt und konnte sich offenbar nicht erklären, warum ich auf einmal wie verrückt durch die Straßen von Konya gerannt war.
    Alles war so schnell gegangen, dass ich es erst dort, im Basar, richtig begriff. Eben noch hatte ich, ganz in die Predigt vertieft, in der Moschee gesessen und die Perlen von Rumis Weisheit aufgesogen und in meiner Versunkenheit nicht bemerkt, dass der Kerl neben mir versehentlich auf die Enden des Tuchs getreten war, das mein Gesicht verhüllte. Ehe ich mich’s versah, löste sich das Tuch, und der Turban verrutschte, sodass mein Gesicht und ein Teil meines Haars sichtbar wurden. Hastig legte ich das Tuch wieder um und lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zu Rumi; ich war sicher, dass niemand etwas bemerkt hatte. Doch als ich den Blick wieder hob, sah ich, dass mich ein junger Mann in der ersten Reihe unverhohlen musterte. Breites Gesicht, schielendes Auge, Hakennase, höhnisches Grinsen. Ich erkannte ihn. Es war Baybars.
    Baybars gehörte zu den unangenehmen Freiern, die keines der Mädchen im Bordell gern bediente. Manche Männer haben so eine Art, Huren zu beleidigen, während sie mit ihnen schlafen, und so einer war er. Ständig riss er schmutzige Witze, und er war unglaublich jähzornig. Einmal hatte er ein Mädchen so schlimm verprügelt, dass sogar der Wirt, der Geld über alles liebte, ihn auffordern musste, das Haus zu verlassen und nie mehr wiederzukommen. Na ja, wenigstens ein paar Monate lang nicht wiederzukommen. Danach hörten seine Bordellbesuche, warum auch immer, plötzlich auf, und wir bekamen ihn nicht mehr zu sehen. Und jetzt saß er dort vorn. Er hatte sich in der Zwischenzeit einen Vollbart wachsen lassen wie die frommen Männer, aber seine Augen funkelten so böse wie eh und je.
    Ich wandte den Blick ab – doch zu spät. Er hatte mich erkannt.
    Er flüsterte seinem Nebenmann etwas zu. Beide drehten sich um und starrten mich an. Dann machten sie einen Dritten auf mich aufmerksam, und nach und nach blickten alle Männer in der Reihe zu mir hinüber. Ich spürte, dass ich rot wurde, und mein Herz begann zu pochen, aber ich konnte mich nicht bewegen, sondern klammerte mich an die kindliche Hoffnung, dass die Dunkelheit uns alle umhüllen und meine Ängste zerstreuen würde, wenn ich nur stillhielt und die Augen schloss.
    Als ich es wagte, die Augen wieder zu öffnen, bahnte sich Baybars gerade einen Weg durch die Menge auf mich zu. Ich stürzte Richtung Tür, aber an Flucht war nicht zu denken, denn ich war eingekeilt in einem Meer von Menschen. Im Nu war Baybars bei mir – so bedrohlich nah, dass ich seinen Atem roch. Er packte mich am Arm und zischte mir zu: »Was hat eine Hure hier zu suchen? Kennst du keine Scham?«
    »Bitte … bitte lass mich los«, stammelte ich, aber ich glaube,

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