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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Herz schlug mir bis zum Hals. Mit einem Mal erschien mir die Frage nicht mehr so absonderlich. Mir war, als hätte man einen Schleier von mir genommen und darunter erwartete mich ein fesselndes Rätsel. Der Derwisch verzog die Lippen zu einem verstohlenen Lächeln, wie ein Lufthauch so flüchtig. Da wusste ich, dass er nicht irgendein Irrer war, sondern ein Mann mit einer Frage – mit einer Frage, die ich mir noch nie gestellt hatte.
    »Ich verstehe, was du damit sagen willst«, versicherte ich. Es war mir sehr wichtig, dass nicht das leichteste Zittern in meiner Stimme zu hören war. »Ich werde die beiden Äußerungen miteinander vergleichen und dir erklären, warum, obwohl Bistamis Aussage größer klingt, in Wirklichkeit genau das Gegenteil zutrifft.«
    »Ich bin ganz Ohr.«
    »Die Liebe Gottes, musst du wissen, ist ein unendlicher Ozean, aus dem die Menschen so viel Wasser wie möglich schöpfen wollen. Doch letztlich hängt die Menge des Wassers, das wir bekommen, von der Größe unserer Gefäße ab. Manche haben Fässer, andere Eimer, einige aber haben nur Schalen.«
    Während ich sprach, beobachtete ich, wie im Gesicht des Derwischs der feine Spott erst unverhohlener Anerkennung und dann dem milden Lächeln desjenigen wich, der seine eigenen Worte in den Worten eines anderen wiederfindet.
    »Bistami hatte ein ziemlich kleines Gefäß, und schon nach einem Schluck war sein Durst gestillt. Damit war er zufrieden. Wunderbar, dass er das Göttliche in sich selbst erkannte, doch selbst dann besteht noch ein Unterschied zwischen Gott und dem Selbst. Eine Vereinigung gibt es nicht. Was nun den Propheten betrifft, so war er der von Gott Erwählte und musste ein viel größeres Gefäß füllen. Deshalb fragte Gott ihn im Koran: ›Haben wir dir nicht das Herz geöffnet?‹ Da weitete sich sein Herz, sein Gefäß wurde riesig, und sein Durst kehrte immer wieder. Kein Wunder, dass er sagte: ›Wir kennen Dich nicht, wie es sich gebührt‹, obwohl er Ihn sicherlich besser kannte als jeder andere.«
    Der Derwisch grinste wohlwollend, nickte und dankte mir. Dann legte er in einer Geste der Erkenntlichkeit die Hand aufs Herz und blieb einen Moment lang so stehen. Als unsere Blicke sich wieder trafen, bemerkte ich eine Spur von Freundlichkeit in seinen Augen.
    Ich schaute an ihm vorbei in die perlgraue Landschaft hinaus, wie sie zu dieser Jahreszeit für unsere Stadt bezeichnend war. Um unsere Füße tanzten ein paar trockene Blätter. Der Derwisch sah mich an, als sei sein Interesse neu erwacht, und im verblassenden Licht des Sonnenuntergangs, das hätte ich schwören können, war er für einen Augenblick von einer bernsteingelben Aura umgeben.
    Er verbeugte sich achtungsvoll vor mir. Und ich verbeugte mich vor ihm. Ich weiß nicht, wie lange wir so unter dem violetten Himmel verharrten. Nach einer Weile wurde die Menge ringsumher unruhig; die Leute hatten unserem Gespräch mit einer Verwunderung gelauscht, die an Missbilligung grenzte. Noch nie hatten sie gesehen, dass ich vor jemandem das Haupt neigte, und die Tatsache, dass ich es für einen gewöhnlichen Wandersufi getan hatte, erschütterte manche von ihnen, auch meine engsten Schüler.
    Der Derwisch musste den in der Luft liegenden Tadel gespürt haben.
    »Ich gehe jetzt besser und überlasse dich deinen Bewunderern«, sagte er. Seine Stimme verlor sich in samtigem Flüstern.
    »Warte! Geh noch nicht! Bitte bleib!«
    Seine Miene wurde nachdenklich, und seine Lippen kräuselten sich wehmütig, so als hätte er gern mehr gesagt, dürfte aber nicht. In diesem Moment, in dieser Stille, hörte ich die Frage, die er mir nicht gestellt hatte.
    Und was ist mit dir, großer Prediger? Wie groß ist dein Gefäß?
    Es gab nichts mehr zu sagen. Wir hatten keine Worte mehr. Ich tat einen Schritt auf den Derwisch zu und kam ihm so nah, dass ich die goldenen Sprenkel in seinen schwarzen Augen sah. Mich überkam das merkwürdige Gefühl, diesen Moment bereits erlebt zu haben. Nicht einmal, sondern ein dutzendmal und noch mehr. In Bruchstücken stellte sich die Erinnerung ein. Ein großer, schlanker Mann mit verschleiertem Gesicht, dessen Finger brannten. Da wusste ich es. Der Derwisch, der mir gegenüberstand, war der Mann, den ich im Traum gesehen hatte.
    Mein Gefährte war gefunden. Doch anders, als ich es mir immer vorgestellt hatte, erfüllte mich nicht freudige Verzückung, sondern ein kaltes Grauen.

ELLA
    NORTHAMPTON, 8. JUNI 2008
    B elauert von Fragen, auf die sie keine

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