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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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vernichtenden Blick zu und verzog angewidert das Gesicht.
    »Du hast kein Recht, andere heimlich zu belauschen, und am allerwenigsten deinen Vater!«, schimpfte er.
    Ich zuckte mit den Achseln. »Sag mir, Bruder, stört es dich nicht, dass unser Vater seine Zeit mit einem Fremden verbringt? Länger als einen Monat geht das nun schon so. Vater hat seine Familie völlig beiseitegeschoben. Grämt dich das nicht?«
    »Unser Vater hat niemanden beiseitegeschoben«, entgegnete mein Bruder. »Er hat in Schams-e Tabrizi einen sehr guten Freund gefunden. Wenn du unseren Vater wirklich liebst, solltest du dich für ihn freuen, anstatt zu quengeln und zu jammern wie ein kleines Kind.«
    So etwas konnte nur mein Bruder sagen. Aber da ich seine Schrulligkeit kannte, nahm ich seine verletzenden Bemerkungen nicht ernst. Nett und artig, wie er war, war er von klein auf der Liebling der Familie und der Nachbarn und der von meinem Vater bevorzugte Sohn.
    Genau vierzig Tage nachdem mein Vater und der Derwisch sich in die Bibliothek eingeschlossen hatten, passierte etwas Merkwürdiges. Ich hockte wieder einmal vor der Tür und lauschte einer Stille, die noch tiefer war als sonst, als plötzlich laut die Stimme des Derwischs ertönte.
    »Vor vierzig Tagen haben wir uns hierher zurückgezogen und jeden Tag über eine der vierzig Regeln gesprochen, die in der Religion der Liebe gelten. Jetzt sind wir fertig und sollten hinausgehen. Vielleicht hat dein Fernbleiben die Familie beunruhigt.«
    Mein Vater widersprach. »Keine Sorge, meine Frau und meine Söhne sind reif genug, um zu verstehen, dass ich auch einmal Zeit ohne sie brauche.«
    »Nun, über deine Frau kann ich nichts sagen, aber deine beiden Söhne sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht«, erwiderte Schams daraufhin. »Der ältere wandelt auf deinen Spuren, aber der jüngere tanzt, so fürchte ich, ganz aus der Reihe. Sein Herz ist dunkel vor Eifersucht und Missgunst.«
    Meine Wangen brannten vor Zorn. Wie konnte er so etwas Gemeines über mich sagen, obwohl er mich noch nicht einmal gesehen hatte!
    »Er glaubt, ich würde ihn nicht kennen, aber ich kenne ihn«, fuhr der Derwisch nach einer kurzen Pause fort. »Während er dort draußen hockte, sein Ohr an die Tür presste und durch Gucklöcher lugte, habe auch ich ihn beobachtet.«
    Mich überlief ein eiskalter Schauder, auf meinen Armen sträubten sich die Haare. Ohne mich lange zu besinnen, riss ich die Tür auf und stürzte in den Raum. Die Augen meines Vaters weiteten sich vor Schreck, aber gleich darauf wich seine Bestürzung großem Zorn.
    »Bist du von Sinnen, Aladdin? Wie kannst du es wagen, uns zu stören?«, wetterte er.
    Ich überhörte die Frage, deutete auf Schams und rief: »Frag doch erst einmal ihn, wie er es wagen kann, so über mich zu reden!«
    Mein Vater schwieg. Er sah mich an und holte so tief Luft, als wäre ihm mein Zugegensein eine schwere Last.
    »Bitte, Vater, Kira vermisst dich. Und deine Schüler auch. Wie kannst du nur allen, die du liebst, eines erbärmlichen Derwischs wegen den Rücken kehren?«
    Kaum hatten diese Worte meine Lippen verlassen, bereute ich es schon, doch es war zu spät. Mein Vater starrte mich an. In seinem Blick lag Enttäuschung. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
    »Tu dir selbst einen Gefallen, Aladdin, und verlass sofort diesen Raum!«, sagte er. »Zieh dich an einen ruhigen Ort zurück und denk über das nach, was du getan hast. Du darfst das Wort erst dann wieder an mich richten, wenn du in dich gegangen bist und deinen Fehler erkannt hast.«
    »Aber, Vater …«
    »Hinaus!«, wiederholte mein Vater und wandte sich von mir ab.
    Mit wehem Herzen verließ ich den Raum. Schweißnass waren meine Hände, und meine Knie zitterten.
    In diesem Augenblick dämmerte mir, dass sich unser Leben auf unbegreifliche Art verändert hatte und nichts mehr so sein würde wie zuvor. Nach dem Tod meiner Mutter acht Jahre zuvor fühlte ich mich nun zum zweiten Mal von einem Elternteil verlassen.

RUMI
    KONYA, 18. DEZEMBER 1244
    B atin Allah – das verborgene Gesicht Gottes. Öffne mein Herz, damit ich die Wahrheit schaue.
    Als mir Schams-e Tabrizi die Frage über den Propheten Mohammed und den Sufi Bistami stellte, war mir, als gäbe es nur noch uns zwei auf der Welt. Vor uns lagen die sieben Stufen auf dem Weg zur Wahrheit – sieben Maqamat muss jedes Ich hinter sich lassen, um das Einssein zu erlangen.
    Die erste Stufe ist die Niedere Nafs, der niedrigste und am weitesten verbreitete

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