Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Eines nicht allzu fernen Tages werden wir alle ausgemerzt, denn wir wandeln auf den Spuren der Bewohner Sodoms und Gomorrhas.
Und diese Sufis sind ein ganz, ganz schlechter Einfluss. Wie können sie es wagen, sich als Moslems zu bezeichnen, obwohl sie Dinge von sich geben, die ein Moslem nicht einmal denken sollte! Wenn ich sie den Namen des Propheten aussprechen höre – Friede sei auf ihm! –, um ihre dummen Ansichten zu untermauern, beginnt mein Blut zu kochen. Der Prophet Mohammed, behaupten sie, habe nach einem Feldzug verkündet, seine Leute würden von nun an den kleinen Dschihad gegen den größeren Dschihad eintauschen – den Kampf gegen das eigene Ich. Die Sufis behaupten, seitdem sei das Ich der einzige Gegner, gegen den ein Moslem kämpfen sollte. Alles schön und gut, aber wie, frage ich mich, soll das im Kampf gegen die Feindes des Islam von Nutzen sein?
Die Sufis behaupten gar, die Scharia sei nur eine Stufe innerhalb einer Entwicklung. Was für eine Stufe, frage ich, soll das sein? Und als wäre das nicht schon erschreckend genug, sagen sie obendrein, ein erleuchteter Mensch könne nicht an die Regeln früherer Stufen gefesselt bleiben. Und da sie sich selbst gern als diejenigen sehen, die bereits eine höhere Stufe erreicht haben, benutzen sie das als miesen Vorwand, um die Regeln der Scharia zu missachten. Trinken, Tanzen, Musik, Gedichte und Malerei sind ihnen offenbar wichtiger als ihre religiösen Pflichten. Sie predigen, jeder Mensch dürfe sich auf seine eigene Suche nach Gott machen, da es im Islam keine Hierarchie gebe. Das klingt alles ganz harmlos und unbedenklich, aber wenn man sich dieses öde Geschwätz erst einmal angehört hat, entdeckt man, dass die Lehre der Sufis eine finstere Seite hat, nämlich die Behauptung, man brauche religiösen Autoritäten keinerlei Beachtung zu schenken!
In den Augen der Sufis ist der Heilige Koran vollgestopft mit dunklen Symbolen und vielschichtigen Hinweisen, die nacheinander auf mystische Art interpretiert werden müssen. Und so untersuchen sie, wie jedes Wort zu einer Zahl hinschwingt, studieren die geheime Bedeutung der Zahlen, suchen nach verborgenen Verweisen im Text und vermeiden es nach Kräften, die Botschaft Gottes einfach und klar in sich aufzunehmen.
Manche Sufis behaupten gar, die Menschen seien der sprechende Koran. Wenn das nicht reine Blasphemie ist, dann weiß ich es nicht! Und dann gibt es noch die Wanderderwische, auch so eine Truppe von Sonderlingen. Kalandaris, Haydaris, Camiis – man kennt sie unter allen möglichen Namen. Die halte ich für die Schlimmsten. Was kann man denn von einem Mann erwarten, der nicht fähig ist, an einem Ort sesshaft zu werden? Ein Mann ohne Zugehörigkeitsgefühl wirbelt doch in alle möglichen Richtungen wie ein vertrocknetes Blatt im Wind. Ein Opfer wie geschaffen für Schaitan!
Aber die Philosophen sind auch nicht besser als die Sufis. Sie grübeln und grübeln, als könnte ihr begrenzter Verstand die Unverständlichkeit des Universums erfassen! Es gibt eine Geschichte, die die Verschwörung zwischen den Philosophen und den Sufis zum Gegenstand hat.
Einst begegneten sich ein Philosoph und ein Derwisch, und sofort verstanden sich die beiden ausnehmend gut. Tagelang sprachen sie miteinander, und jeder führte die Sätze des anderen zu Ende.
Als sich ihre Wege schließlich trennten, sagte der Philosoph über das Gespräch: »Alles, was ich weiß, sieht er.«
Und der Sufi erzählte: »Alles, was ich sehe, weiß er.«
Der Sufi glaubt also zu sehen, der Philosoph zu wissen. Meiner Meinung nach sehen sie nichts und wissen sie nichts. Offensichtlich ist ihnen nicht klar, dass wir schlichten, beschränkten und letztlich sterblichen Menschen nicht mehr wissen sollen, als uns erlaubt ist. Das Höchste, was ein Mensch zu erlangen vermag, ist eine sehr bruchstückhafte Kenntnis des Allmächtigen. Mehr nicht. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, die Lehre Gottes zu deuten, sondern sie zu befolgen.
Wenn Baybars nach Hause kommt, werden wir uns über diese Dinge unterhalten. Das ist uns zur Gewohnheit geworden, zu einem kleinen Ritual. Des Nachts nach getaner Arbeit isst er die Suppe und das Fladenbrot, das meine Frau ihm vorsetzt, und dann reden wir über den Lauf der Welt. Mich freut, dass sein Hunger so groß ist. Er muss stark sein. Für einen jungen, seinen Grundsätzen treuen Burschen wie ihn gibt es in dieser gottlosen Stadt eine Menge zu tun.
SCHAMS
KONYA, 30. OKTOBER 1244
B evor ich mit Rumi
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