Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Anwort hätte geben können, dachte Ella über ihren Mailwechsel mit Aziz nach, an dem sie so vieles erstaunlich fand, am allermeisten aber die Tatsache, dass es ihn überhaupt gab. Sie waren in jeder Hinsicht so verschieden, dass sie nicht zu sagen wusste, worin die für einen so lebhaften Austausch doch wohl notwendigen Gemeinsamkeiten bestehen sollten.
Aziz erschien ihr wie ein Puzzle, das sie Teil für Teil zusammensetzen wollte. Mit jeder neuen E-Mail von ihm konnte sie ein neues Teil einfügen. Noch stand ihr nicht das ganze Bild vor Augen, aber ein paar Dinge hatte sie schon herausgefunden über den Mann, mit dem sie sich schrieb.
Aus seinem Blog wusste sie, dass er professioneller Fotograf und ein leidenschaftlicher Globetrotter war, für den das Bereisen der entlegensten Gegenden der Welt genauso selbstverständlich war wie ein Spaziergang im Park um die Ecke. Ein richtiger Nomade, den niemand aufhalten konnte. Er war buchstäblich überall gewesen und fühlte sich in Sibirien und Schanghai genauso zu Hause wie in Kalkutta und Casablanca. Stets war er nur mit einem Rucksack und einer Rohrflöte unterwegs und hatte Freunde an Orten, die Ella nicht einmal auf der Landkarte fand. Unnachgiebige Grenzbeamte, die Weigerung feindlich gesinnter Staaten, ihm ein Visum auszustellen, durch Süßwasserparasiten hervorgerufene Erkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden nach dem Genuss verdorbener Speisen, die Gefahr, überfallen zu werden, Zusammenstöße zwischen Regierungstruppen und Rebellen – nichts konnte ihn davon abhalten, in den Norden und den Süden, in den Osten und den Westen zu reisen.
Für Ella war Aziz wie ein reißender Wasserfall. Wo sie nicht einmal aufzutreten wagte, strömte er kraftvoll hinweg. Wo sie zögerte und sich Gedanken machte, bevor sie handelte, handelte er zuerst und sorgte sich später, wenn er sich überhaupt je sorgte. Er war so voller Leben, es war fast schon zu viel Idealismus und Leidenschaft für einen einzigen Menschen. Er hatte so viele Facetten, und eine jede war interessant.
Ella betrachtete sich als überzeugte liberale Demokratin, nicht praktizierende Jüdin und um eine vegetarische Lebensweise bemühte Frau, die den Entschluss gefasst hatte, Fleisch irgendwann ganz und gar von ihrem Speiseplan zu streichen. Sie teilte jede Angelegenheit in klar gefasste Kategorien ein, organisierte ihre Welt im Großen und Ganzen genauso wie ihren Haushalt, nämlich sauber und ordentlich, und operierte gedanklich mit zwei einander völlig ausschließenden und gleich langen Listen, auf denen die Dinge, die sie mochte, den Dingen, die sie hasste, gegenüberstanden.
Obwohl sie durchaus keine Atheistin war und hin und wieder gern das eine oder andere Ritual durchführte, glaubte sie, dass heute wie auch schon in der Vergangenheit die Religion das größte Übel auf der Welt darstellte. Religiöse Menschen gingen Ella mit ihrem beispiellosen Hochmut und der selbst erklärten Überlegenheit ihres Glaubens schlicht auf die Nerven. Fanatiker welcher Religion auch immer waren böse und unerträglich, aber im tiefsten Inneren hielt Ella die islamischen Fanatiker für die schlimmsten von allen.
Aziz hingegen war ein spiritueller Mensch, der religiöse Fragen und Glaubensdinge ernst nahm, sich aus der aktuellen Politik heraushielt und niemanden und nichts »hasste«. Der überzeugte Fleischesser hätte, seinen Worten zufolge, niemals nein zu einem guten Schisch Kebab gesagt. Mitte der siebziger Jahre war er vom Atheismus zum Islam konvertiert – »irgendwann nach Kareem Abdul-Jabbar und vor Cat Stevens«, wie er es scherzhaft ausdrückte. Seither hatte er mit Hunderten von Mystikern aller Länder und Religionen das Brot geteilt und bezeichnete sie als seine »Brüder und Schwestern auf meinem Weg«.
Als engagierter Pazifist mit ausgeprägt humanitären Ansichten glaubte er, dass sämtliche Religionskriege im Grunde ein »linguistisches Problem« darstellten. Die Sprache trug seiner Meinung nach mehr dazu bei, die Wahrheit zu verbergen, als sie zu offenbaren, weshalb sich die Menschen ständig missverstanden und einander falsch beurteilten. In einer Welt voller Übersetzungsfehler sei es sinnlos, über irgendwelche Themen entschiedene Ansichten zu vertreten, weil selbst unsere festesten Überzeugungen möglicherweise auf einem simplen Missverständnis beruhten. Starre Auffassungen lehnte er generell ab, denn »leben heißt, ständig die Farbe zu wechseln«.
Aziz und Ella lebten in unterschiedlichen
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