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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Zeitzonen, nicht nur buchstäblich, sondern auch in metaphorischer Hinsicht. Für sie bedeutete Zeit vor allem Zukunft. Einen Großteil des Tages verbrachte sie damit, zwanghaft Pläne fürs nächste Jahr, für den nächsten Monat, den nächsten Tag oder sogar die nächste Minute zu machen. Selbst wenn es um so banale Tätigkeiten ging, wie einzukaufen oder einen kaputten Stuhl zu ersetzen, legte sie jedes Detail im Voraus fest und trug ständig akribisch ausgearbeitete Terminpläne und To-do-Listen in ihrer Handtasche mit sich herum.
    Für Aziz dagegen konzentrierte sich die Zeit auf den gerade gegebenen Augenblick, und alles andere als »jetzt« war eine Illusion. Aus demselben Grund glaubte er, dass Liebe weder etwas mit »Plänen für morgen« noch mit »Erinnerungen an gestern« zu tun hatte. Liebe existierte nur hier und jetzt. In einer früheren Mail an sie hatte er abschließend geschrieben: »Ich bin ein Sufi, ein Kind des gegenwärtigen Augenblicks.«
    »Es ist schon grotesk«, hatte Ella zurückgeschrieben, »so etwas einer Frau zu sagen, die immer viel zu viele Gedanken an die Vergangenheit und noch mehr an die Zukunft verschwendet hat, ohne je mit dem gegenwärtigen Augenblick auch nur in Berührung gekommen zu sein.«

ALADDIN
    KONYA, 16. DEZEMBER 1244
    B egegnet bin ich dem Derwisch, einen Tag nachdem er ins Leben meines Vaters getreten war. Ich hatte mich mit Freunden zur Jagd aufgemacht und kehrte erst am nächsten Morgen zurück. Da sprach schon die ganze Stadt von der Zusammenkunft zwischen meinem Vater und Schams-e Tabrizi. Wer ist dieser Derwisch, und wie konnte es sein, dass ein gelehrter Mann wie Rumi ihn so ernst genommen und sich sogar vor ihm verbeugt hatte, fragten sich alle.
    Schon als kleiner Junge hatte ich gesehen, wie die Leute vor meinem Vater auf die Knie fielen, und nicht im Traum hätte ich gedacht, dass es einmal andersherum sein könnte – es sein denn, der andere wäre ein König oder Großwesir. Deshalb glaubte ich auch nur die Hälfte von dem, was mir zu Ohren kam, und nahm mir das Gerede nicht zu Herzen, bis ich zu Hause anlangte und Kira, meine Stiefmutter, die niemals lügt und niemals übertreibt, die ganze Geschichte bestätigte. Ja, es sei wahr, ein Wanderderwisch namens Schams-e Tabrizi habe meinen Vater in aller Öffentlichkeit angefochten und außerdem wohne er jetzt auch noch bei uns im Haus.
    Wer war dieser Fremde, der wie ein vom Himmel geschleuderter geheimnisvoller Stein unser Leben getroffen hatte? Ich wollte ihn unbedingt mit eigenen Augen sehen und fragte Kira: »Wo ist er jetzt?«
    »Leise!«, flüsterte Kira angespannt. »Dein Vater und der Derwisch sind in der Bibliothek.«
    Ihre gedämpften Stimmen waren zu hören, aber worüber sie sprachen, war nicht zu verstehen. Ich ging auf die Tür zu, doch meine Stiefmutter hielt mich zurück.
    »Du wirst warten müssen. Sie wollen nicht gestört werden.«
    Sie verließen die Bibliothek den ganzen Tag kein einziges Mal. Auch am nächsten Tag kamen sie nicht heraus und am darauffolgenden auch nicht. Worüber redeten sie nur? Welche Gemeinsamkeiten gab es zwischen einem gewöhnlichen Derwisch und meinem Vater?
    Eine Woche verstrich, dann eine zweite. Jeden Morgen bereitete Kira das Frühstück zu und stellte es auf einem Tablett vor die Tür. Doch die beiden Männern lehnten alle Köstlichkeiten ab und begnügten sich mit einer Scheibe Brot am Morgen und einem Glas Ziegenmilch am Abend.
    In dieser Zeit war ich sehr beunruhigt, fahrig und schlecht gelaunt. Mehrmals am Tag spähte ich durch jedes Loch und jeden Spalt in der Tür, um einen Blick in das Innere der Bibliothek zu erhaschen. Ohne mich darum zu scheren, was geschähe, falls sie plötzlich die Tür öffneten und mich beim Lauschen erwischten, kauerte ich lange davor und versuchte zu verstehen, was sie besprachen. Aber ich hörte immer nur leises Gemurmel, und viel erkennen konnte ich auch nicht. Die halb zugezogenen Vorhänge tauchten den Raum in ein Dämmerlicht. Da es weder viel zu sehen noch viel zu hören gab, füllte ich die Stille eifrig mit meinen eigenen Gedanken und erfand selbst die Gespräche, die sie wohl führten.
    Einmal ertappte mich Kira mit dem Ohr an der Tür, ohne etwas dazu zu sagen. Da lag ihr schon mehr daran als mir, zu erfahren, was sich dort abspielte. Frauen können ihre Neugier nicht bezähmen, das liegt nun mal in ihrer Natur.
    Als mich aber mein Bruder Sultan Walad überraschte, ging die Sache anders aus. Er warf mir einen

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