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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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zusammentraf, nur eine Nacht zuvor, saß ich auf meinem Balkon im Gasthof der Zuckerverkäufer. Mein Herz frohlockte beim Anblick der Herrlichkeit des Universums, das Gott nach seinem Bilde erschaffen hatte, damit wir Ihn, wohin wir uns auch wenden, immer sehen und finden können.
    Ich dachte an die Menschen zurück, denen ich begegnet war – an den Bettler, die Hure und den Trinker. Gewöhnliche Menschen, die an einer weitverbreiteten Krankheit litten, dem Getrenntsein von dem Einen. Diese Menschen übersahen die Gelehrten in ihren Elfenbeintürmen. Ich fragte mich, ob Rumi wohl anders sei. Für den Fall, dass er genauso war, nahm ich mir vor, als Verbindung zwischen ihm und der Schattenseite der Gesellschaft zu dienen.
    Die Stadt hatte sich zur Ruhe begeben. In dieser späten Stunde wollten selbst die Tiere der Nacht die Stille nicht stören. Einer schlafenden Stadt zu lauschen machte mich immer traurig und froh zugleich. Dann versuchte ich mir vorzustellen, welche Geschichten hinter den verschlossenen Türen gelebt wurden, welche Geschichten ich gelebt haben könnte, hätte ich einen anderen Weg gewählt. Aber ich hatte nie eine Wahl getroffen. Wenn überhaupt, dann hatte der Weg mich gewählt.
    Mir fiel eine kurze Erzählung ein. Ein Wanderderwisch kam in eine Stadt, deren Bewohner Fremden nicht trauten. »Fort mit dir!«, schrien sie. »Keiner hier kennt dich!«
    Der Derwisch erwiderte ruhig: »Ja, aber ich kenne mich selbst, und glaubt mir, andersherum wäre es viel schlimmer.«
    Solange ich mich selbst kannte, stand alles zum Besten. Wer sich selbst kennt, kennt den Einen.
    Der Mond badete mich in seinem warmen Schein. Ein leichter Regen, zart wie ein Seidentuch, ging auf die Stadt nieder. Ich dankte Gott für diesen gesegneten Augenblick und legte mein Schicksal in Seine Hände. Ich staunte einmal mehr über die Zerbrechlichkeit und Kürze des Lebens, und eine weitere Regel kam mir in den Sinn: Das Leben ist eine Leihgabe auf Zeit und die Welt nichts als eine skizzenhafte Nachahmung der Wirklichkeit. Nur Kinder halten das Spielzeug für echt. Und doch sind die Menschen entweder vernarrt in das Spielzeug oder zerstören es achtlos und werfen es fort. Halte dich im Leben fern von allen Extremen, denn sie zerstören dein inneres Gleichgewicht.
    Sufis suchen nicht das Extreme. Ein Sufi ist immer sanft und maßvoll.
    Morgen werde ich in die große Moschee gehen und Rumi reden hören. Er mag ein so großartiger Prediger sein, wie alle behaupten, aber Bedeutung und Wirkung eines jeden Redners sind letztlich abhängig von der Bedeutung und Wirkung seiner Zuhörerschaft. Rumis Worte mögen wie ein verwilderter Garten sein, voller Karden, Kräuter, Fichten und Strauchwerk, aber immer bleibt es dem Besucher überlassen, sich zu nehmen, was ihm gefällt. Schöne Blumen sind schnell gepflückt, doch die wenigsten achten auf Pflanzen mit Stacheln und Dornen, obwohl sich gerade aus ihnen wirksame Heilmittel herstellen lassen.
    Verhält es sich nicht ebenso mit dem Garten der Liebe? Wie kann Liebe ihres Namens würdig sein, wenn man sich einzig die hübschen Dinge herauspickt und die mühsamen übergeht? Leicht ist es, das Gute zu genießen und das Schlechte zu missbilligen. Das kann jeder. Die wahre Herausforderung besteht darin, das Gute und das Schlechte gemeinsam zu lieben, nicht weil man mit dem Glatten auch das Raue nehmen muss, sondern weil man über solche Zuschreibungen hinausgehen und die Liebe in ihrer Ganzheit annehmen muss.
    Nur noch ein Tag, dann treffe ich meinen Gefährten. Ich kann nicht schlafen.
    Oh Rumi! König über das Reich der Wörter und Bedeutungen!
    Wirst du mich erkennen, wenn du mich siehst?
    Sieh mich!

RUMI
    KONYA, 31. OKTOBER 1244
    B in ich schon einmal glücklicher gewesen als an diesem gesegneten Tag, da ich Schams-e Tabrizi begegnete? An diesem letzten Tag im Oktober lag eine neue Kühle in der Luft und der Wind wehte stärker und verkündete das Ende des Herbstes.
    Heute Nachmittag war die Moschee wie immer gedrängelt voll. Wenn ich vor einer großen Menge predige, achte ich stets darauf, meine Zuhörer weder zu vergessen noch an sie zu denken. Und es gibt nur eine Möglichkeit, das zu erreichen: Man muss sich die Menge als einen einzigen Menschen vorstellen. Hunderte hören mir jede Woche zu, aber ich spreche immer nur zu einem Menschen – zu dem, der meine Worte im Herzen widerhallen hört und der mich kennt wie kein Zweiter.
    Als ich dann aus der Moschee trat, stand mein Pferd schon

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