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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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bereit. In seine Mähne waren Goldfäden und kleine Glöckchen aus Silber geflochten. Ich liebte es, die Glöckchen bei jedem Huftritt klingeln zu hören, aber rasch ging es nicht voran, denn der Weg war versperrt von Menschen. Gemessenen Schrittes zogen wir an schäbigen Läden und strohgedeckten Häusern vorbei. Die Rufe der Bittsteller mischten sich mit Kindergebrüll und dem Geschrei der Bettler, die sich ein paar Münzen erhofften. Die meisten wollten, dass ich für sie betete; einige wünschten einfach, dicht bei mir zu gehen. Doch andere waren mit höheren Erwartungen gekommen, sie baten mich, sie von einer tödlichen Krankheit zu heilen oder einen bösen Zauber von ihnen zu nehmen. Diese Leute machten mir Angst. Warum verstanden sie nicht, dass ich weder ein Prophet noch ein Weiser war und somit keine Wunder wirken konnte?
    Als wir um die Ecke bogen und auf den Gasthof der Zuckerverkäufer zuschritten, fiel mein Blick auf einen Wanderderwisch, der sich einen Weg durch die Menge bahnte, geradewegs auf mich zu, und mich dabei durchdringend ansah. Er bewegte sich gewandt und aufmerksam und strahlte einen eigenen Willen und eine gewisse Fertigkeit aus. Kein einziges Haar war an ihm zu sehen, kein Bart, keine Augenbrauen. Und obwohl sein Gesicht offen war wie sonst keines, lag etwas Unerforschliches in seiner Miene.
    Doch es war nicht seine äußere Erscheinung, die mich so fesselte. Im Lauf der Jahre hatte ich Derwische jedweder Art auf der Suche nach Gott Konya durchreisen sehen. Diese Menschen, Männer mit auffälligen Tätowierungen oder mehreren Ohr- und Nasenringen, stellten ihr widersetzliches Wesen geradezu aus. Ihr Haar trugen sie entweder sehr lang oder hatten sich gänzlich kahl geschoren. Manche Kalandaris hatten sich sogar die Zunge und die Brustwarzen durchstochen. Deshalb stutzte ich nicht seines Äußeren wegen, als ich den Derwisch zum ersten Mal sah, sondern wegen seines Blicks.
    Der Blick, den er mir aus schwarzen Augen entgegensandte, war schärfer als ein Dolch. Mitten auf der Straße stand er und hob die Arme hoch empor, wie um nicht nur die Prozession, sondern auch die Zeit anzuhalten. Da durchfuhr es mich von Kopf bis Fuß einer plötzlichen Ahnung gleich. Mein Pferd begann unruhig zu tänzeln, und laut schnaubend bewegte es den Kopf auf und ab. Ich versuchte es zu beruhigen, aber es wurde so ängstlich, dass ich mich von ihm anstecken ließ.
    Der Derwisch ging auf mein scheuendes Pferd zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was nicht zu verstehen war. Daraufhin begann das Tier schwer zu atmen, doch als der Derwisch eine letzte Handbewegung machte, wurde es schlagartig ruhig. Die Menge wogte leicht vor Erstaunen, und einer murmelte: »Das ist schwarze Magie!«
    Ohne wahrzunehmen, was um ihn vor sich ging, musterte mich der Derwisch neugierig aus seinen schwarzen Augen. »Oh großer Gelehrter des Ostens und des Westens, ich habe so viel von dir gehört. Ich bin gekommen, um dich etwas zu fragen, wenn du erlaubst.«
    »Nur zu«, sagte ich leise.
    »Zuerst musst du von deinem Pferd steigen, damit wir auf gleicher Höhe miteinander sind.«
    Ich war so verblüfft, dass ich ein Weilchen kein Wort herausbrachte. Auch den Umstehenden verschlug es die Sprache. Noch nie hatte es jemand gewagt, so mit mir zu reden.
    Mein Gesicht brannte vor Zorn, mein Magen schmerzte vor Wut, aber es gelang mir, mein Ich in Schach zu halten, und ich saß ab. Der Derwisch hatte sich bereits umgedreht und war davongegangen.
    »So warte doch bitte!«, rief ich, als ich ihn eingeholt hatte. »Ich will deine Frage hören.«
    Er blieb stehen, wandte sich zu mir um und lächelte mich zum ersten Mal an. »Nun gut, dann sag mir bitte, wen du für größer hältst: den Propheten Mohammed oder den Sufi Bistami.«
    »Was für eine Frage!«, sagte ich. »Wie kannst du unseren verehrten Propheten, Friede sei auf ihm, den letzten in der Reihe der Propheten, mit einem berüchtigten Mystiker vergleichen?«
    Eine schaulustige Menge hatte sich um uns geschart, aber der Derwisch schien sich an diesem Publikum nicht zu stören. Sorgfältig betrachtete er mein Gesicht und sprach: »Bitte denk darüber nach. Hat nicht der Prophet gesagt: ›Gott, vergib mir, denn ich kenne Dich nicht, wie es sich gebührt‹, während Bistami verkündete: ›Ruhm sei mir, denn ich trage Gott unter meinem Mantel‹? Wenn sich ein Mensch vor Gott so klein fühlt, ein anderer aber behauptet, Gott in sich zu tragen, welcher von beiden ist da wohl größer?«
    Das

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