Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Gelegenheit in Rumis Bibliothek. Dann saß ich zwischen all den Büchern, die er so liebte, atmete ihren Geruch von Staub und Moder ein und fragte mich, welche Geheimnisse sie in sich bargen. Rumi verehrte seine Bücher. Die meisten waren ihm von seinem verstorbenen Vater Bahauddin Walad vererbt worden. Unter diesen schätzte er vor allem den Maarif . In vielen Nächten las er bis zum Morgengrauen darin, obwohl ich den Verdacht hatte, dass er den Text ohnehin auswendig kannte.
»Nicht einmal gegen Säcke voller Gold würde ich die Bücher meines Vaters eintauschen«, sagte Rumi immer. »Jedes dieser Bücher ist ein Erbstück meiner Vorfahren und sein Wert unermesslich. Ich bekam sie von meinem Vater und werde sie an meine Söhne weitergeben.«
Ich musste viel Lehrgeld zahlen, bis ich erkannte, wie viel ihm seine Bücher bedeuten. Noch im ersten Ehejahr kam ich eines Tages, als ich allein zu Hause war, auf die Idee, die Bibliothek abzustauben. Ich nahm alle Bücher aus den Regalen und wischte mit einem Samttuch darüber, das ich in Rosenwasser getaucht hatte. Nun glauben die Einheimischen, dass es einen jugendlichen Dschinn mit Namen Kebikec gibt, dem es eine abartige Freude bereitet, Bücher zu zerstören. Um ihn abzuwehren, schreibt man in jedes Buch folgende Warnung: »Bleib stehen, Kebikec, halte dich fern von diesem Buche!« Aber woher hätte ich wissen sollen, dass sich nicht nur Kebikec von den Büchern meines Mannes fernzuhalten hatte, sondern auch ich?
An jenem Nachmittag entstaubte und säuberte ich jedes einzelne Buch. Während der Arbeit las ich in Ghazalis Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften . Erst als ich hinter mir eine heisere, kühl klingende Stimme vernahm, wurde mir bewusst, wie lange ich schon in der Bibliothek war.
»Was hast du hier zu suchen, Kira?«
Es war Rumi – oder jemand, der ihm ähnelte, denn seine Stimme klang schroffer und seine Züge waren strenger als sonst. Dies war das einzige Mal in unserer acht Jahre währenden Ehe, dass er so mit mir sprach.
»Ich mache sauber«, murmelte ich. »Es sollte eine Überraschung werden.«
»Ich verstehe«, sagte Rumi. »Aber bitte fass meine Bücher nie wieder an! Es wäre mir sogar am liebsten, wenn du diesen Raum gar nicht mehr betreten würdest.«
Nach diesem Tag hielt ich mich selbst dann von der Bibliothek fern, wenn ich ganz allein im Haus war. Die Welt der Bücher war nichts für mich und würde es auch niemals sein, so viel verstand ich, und ich fügte mich darein.
Doch als Schams-e Tabrizi in unser Haus kam und mein Mann und er sich vierzig Tage lang in der Bibliothek einschlossen, kochte der alte Groll wieder in mir hoch. Eine Wunde, von der ich selbst gar nichts wusste, hatte zu bluten begonnen.
KIMYA
KONYA, 20. DEZEMBER 1244
B ergig war das Land, in dem ich aufwuchs, denn meine Eltern waren einfache Bauern in einem Tal des Taurus. Als ich zwölf war, nahm Rumi mich an Kindes statt an. Meine leiblichen Eltern arbeiteten hart und alterten vor der Zeit. Wir lebten in einem kleinen Haus, in dem ich mir mit meiner Schwester und den Geistern unserer toten Geschwister eine Kammer teilte. Fünf Kinder hatten wir verloren, an läppische Krankheiten allesamt. Nur ich konnte die Geister sehen. Immer wenn ich erzählte, was die kleinen Geister gerade trieben, erschrak meine Schwester, und meine Mutter begann zu weinen. Vergeblich erklärte ich ihnen, dass sie sich ohne Grund ängstigten und sorgten, denn keines meiner toten Geschwister sah unglücklich oder gar gruselig aus. Aber das konnte ich meiner Familie nie begreiflich machen.
Eines Tages kam ein Einsiedler durch unser Dorf. Mein Vater sah, wie erschöpft er war, und bot ihm an, bei uns zu übernachten. Als wir abends rings um die Feuerstelle saßen und Ziegenkäse rösteten, erzählte uns der Mann wunderbare Geschichten von fernen Ländern. Während ich seiner Stimme lauschte, schloss ich die Augen und reiste mit ihm zu den Wüsten Arabiens, zu den Beduinenzelten Nordafrikas und zu dem Meer mit dem so strahlend blauen Wasser, dem Mittelmeer. Am Strand dort fand ich das Gehäuse einer Meeresschnecke und steckte es ein. Ich wollte den Strand von einem Ende zum anderen entlangstreifen, doch mittendrin hielt mich ein durchdringender, widerlicher Geruch vom Weitergehen ab.
Als ich die Augen aufschlug, merkte ich, dass ich auf dem Boden lag und alle besorgt um mich herumstanden. Meine Mutter stützte mit einer Hand meinen Kopf; in der anderen hielt sie eine halbe Zwiebel, an
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