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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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der sie mich zu riechen zwang.
    »Sie ist wieder da!« Meine Schwester klatschte vor Freude in die Hände.
    »Gott sei Dank!« Meine Mutter stieß einen Seufzer aus. Dann wandte sie sich an den Einsiedler und erklärte ihm: »Kimya litt schon als kleines Kind an Ohnmachtsanfällen. Es geschieht ständig.«
    Am nächsten Morgen dankte der Einsiedler für unsere Gastfreundschaft und verabschiedete sich.
    Zuvor aber sagte er zu meinem Vater: »Eure Tochter Kimya ist ein außergewöhnliches, ein sehr begabtes Kind. Es wäre schade, ihre Geistesgaben verkümmern zu lassen. Ihr solltet sie auf eine Schule schicken.«
    »Wozu braucht ein Mädchen Bildung?«, rief meine Mutter. »Das ist ja unerhört! Sie muss bei mir bleiben und Teppiche weben, bis sie heiratet. Sie ist nämlich eine sehr gute Weberin!«
    Der Einsiedler blieb hartnäckig. »Sie könnte aber eines Tages eine noch bessere Gelehrte sein. Gott hat es eurer Tochter ganz offensichtlich nicht zum Nachteil werden lassen, ein Mädchen zu sein, sondern ihr viele Begabungen geschenkt. Wollt ihr behaupten, ihr wüsstet es besser als Gott? Wenn es hier keine Schule gibt, dann schickt sie zu einem Gelehrten, damit sie die Bildung erfährt, die ihr gebührt!«
    Meine Mutter schüttelte den Kopf. Aber mein Vater dachte anders darüber, das sah ich. Weil ich wusste, wie sehr er Bildung und Wissen schätzte und meine Fähigkeiten achtete, überraschte es mich nicht, als er sagte: »Wir kennen keine Gelehrten. Wo sollen wir einen finden?«
    Da sprach der Einsiedler den Namen aus, der mein Leben verändern sollte. »Ich kenne einen hervorragenden Gelehrten in Konya – Maulana Dschalal ad-Din Rumi. Es wäre ihm gewiss eine Freude, ein Mädchen wie Kimya unterrichten zu dürfen. Bringt sie zu ihm. Ihr werdet es nicht bereuen.«
    Als der Einsiedler gegangen war, warf meine Mutter die Arme in die Höhe. »Ich bin schwanger. Bald gibt es in diesem Haus einen Mund mehr, der gefüttert sein will. Ich brauche Hilfe. Ein Mädchen hat keine Bücher nötig. Hausarbeit und das Hüten von Kindern – das muss sie lernen!«
    Es wäre mir lieber gewesen, meine Mutter hätte sich aus anderen Gründen dagegen ausgesprochen, dass ich das Haus verließ. Wenn sie gesagt hätte, sie würde mich vermissen und könne es nicht einmal kurze Zeit ertragen, mich in eine andere Familie zu geben, wäre ich vielleicht geblieben. Aber das alles sagte sie nicht. Mein Vater jedenfalls fand, dass der Einsiedler recht hatte, und auch ich selbst war nach ein paar Tagen davon überzeugt.
    Kurze Zeit später reiste mein Vater mit mir nach Konya. Wir warteten vor der Madrasa, in der Rumi lehrte. Als er herauskam, war ich zu verlegen, um ihn anzusehen, und schaute nur auf seine Hände. Er hatte lange, geschmeidige, schlanke Finger, die eher wie die eines Künstlers als die eines Gelehrten wirkten. Mein Vater schubste mich vor ihn hin.
    »Meine Tochter ist sehr begabt, ich aber bin nur ein einfacher Mensch und meine Frau ebenfalls. Man hat uns gesagt, du wärst der gelehrteste Mann in der Gegend. Würdest du sie unterrichten?«
    Auch ohne in sein Gesicht zu sehen, spürte ich, dass Rumi ganz und gar nicht erstaunt war. Offenbar war er solche Bitten gewohnt. Während er sich mit meinem Vater unterhielt, ging ich auf den Hof zu, in dem sich mehrere Jungen aufhielten, jedoch kein einziges Mädchen. Auf dem Rückweg aber sah ich zu meiner Freude eine junge Frau allein in einer Ecke stehen. Ihr rundliches Gesicht war so reglos und weiß wie aus Marmor gehauen. Ich winkte ihr zu. Sie schien verwundert, winkte aber nach kurzem Zögern zurück.
    »Ich grüße dich, kleines Mädchen. Kannst du mich sehen?«
    Als ich nickte, erschien ein Lächeln auf dem Antlitz der Frau, und sie klatschte in die Hände. »Das ist wunderbar! Niemand sonst sieht mich!«
    Gemeinsam gingen wir zu meinem Vater und zu Rumi zurück. Ich dachte, sie würden aufhören zu reden, sobald sie die Frau sähen, aber sie hatte recht – sie sahen sie nicht.
    »Komm her, Kimya«, sagte Rumi. »Dein Vater hat berichtet, dass du gern lernst. Sag mir, was genau du an den Büchern so liebst!«
    Ich musste schwer schlucken. Ich war wie gelähmt und brachte kein Wort heraus.
    »Nun komm schon, mein Herz«, sagte mein Vater ein wenig enttäuscht.
    Ich wollte die richtige Antwort geben und etwas sagen, was meinen Vater stolz auf mich machen würde, aber ich wusste einfach nicht, was. Vor lauter Aufregung rang ich verzweifelt nach Luft.
    Mein Vater und ich wären

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