Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Seinszustand, in dem die Seele in weltliche Bestrebungen verstrickt ist. Die meisten Menschen verharren dort und plagen sich leidvoll im Dienste ihres Ichs ab, während sie immer andere für ihr anhaltendes Unglück verantwortlich machen.
Wird sich ein Mensch dieser demütigenden Lage des Ichs bewusst, indem er an sich selbst zu arbeiten beginnt, so kann er die nächste Stufe erklimmen, die in gewisser Hinsicht das Gegenteil der vorherigen ist. Anstatt ständig andere zu beschuldigen, beschuldigt er nun sich selbst, manchmal bis zur Auslöschung des Ichs, das damit zur Tadelnden Nafs wird und die Reise zur Läuterung antreten kann.
Auf der dritten Stufe ist der Mensch bereits reifer, das Ich hat sich zur Inspirierten Nafs entwickelt. Erst auf dieser Stufe und zu keiner Zeit davor kann er die wahre Bedeutung des Wortes »Hingabe« erkennen und das Tal des Wissens durchstreifen. Wer so weit gekommen ist, besitzt und zeigt Geduld, Ausdauer, Weisheit und Demut. Für ihn fühlt sich die Welt neu und beseelt an. Doch viele Menschen, die die dritte Stufe erreicht haben, verspüren das Verlangen, dort zu verharren, und verlieren den Willen oder den Mut weiterzugehen. Deshalb erweist sich oft die dritte Stufe, so schön und wohltuend sie ist, für den nach Höherem Strebenden als Falle.
Wem es gelingt weiterzuziehen, der erreicht das Tal der Weisheit und erfährt die Beruhigte Nafs. Dort ist das Ich nicht mehr, was es einst war – es hat sich in eine höhere Form des Bewusstseins verwandelt. Großzügigkeit, Dankbarkeit und unerschütterliche Zufriedenheit trotz aller Mühsal des Lebens zeichnen den aus, der dort angekommen ist. Dahinter liegt das Tal der Einheit. Wer dort anlangt, erfreut sich an jeder Lebenslage, in die Gott ihn bringt. Weltliche Dinge zählen dann nichts mehr – die Erfreute Nafs ist erreicht.
Auf der nächsten Stufe, der Erfreuenden Nafs, wird der Mensch zum Licht der Menschlichkeit. Er strahlt für jeden, der ihn darum bittet, Kraft aus, lehrt und erleuchtet wie ein wahrer Meister. Manche dieser Menschen verfügen über Heilkräfte. Wohin sie auch gehen, überall verändern sie das Leben anderer. Bei allem, was sie tun und erstreben, ist es ihr größtes Ziel, Gott durch den Dienst an anderen Menschen zu dienen.
Auf der siebten Stufe schließlich erlangt man die Reine Nafs und wird zum Insan-i Kamil, zum vollkommenen Menschen. Doch niemand weiß viel über diesen Zustand, und selbst wenn ihn einige wenige je erreichen sollten, so würden sie nicht darüber sprechen.
Leicht lassen sich die Stufen auf dem Weg aufzählen, aber schwer ist es, sie zu durchleben. Nicht nur der Hindernisse wegen, die dem Menschen auf seiner Reise begegnen, sondern auch weil es keine Gewähr für ein stetes Weiterkommen gibt. Der Weg von der ersten zur letzten Stufe verläuft niemals geradlinig. Immer besteht die Gefahr, auf frühere Stufen zurückzufallen, manchmal sogar von einer hohen bis ganz hinunter auf die niederste. In Anbetracht der zahllosen Fallstricke auf dem Weg verwundert es nicht, dass in jedem Jahrhundert nur einige wenige Menschen die letzten Stufen erreichen.
Deshalb hatte Schams, als er mir jene Frage stellte, nicht nur einen schlichten Vergleich im Sinn. Er wollte mich zum Nachdenken darüber bringen, in welchem Maße ich bereit war, meine Persönlichkeit auszulöschen und in Gott aufzugehen. In seiner ersten Frage verbarg sich eine zweite.
»Wie steht es mit dir, großer Prediger?«, fragte er mich. »Auf welcher der sieben Stufen befindest du dich? Und glaubst du den Mut zu besitzen, bis zum Ende zu gehen? Sag mir, wie groß ist dein Gefäß?«
KIRA
KONYA, 18. DEZEMBER 1244
B ekanntlich soll man sein Schicksal nicht beklagen, und ich weiß auch, dass es nichts nützt. Trotzdem kann ich nicht anders, und ich wünschte, ich wüsste besser Bescheid in der Religion, in Geschichte und Philosophie und all den Dingen, über die Rumi und Schams wohl Tag und Nacht reden. Manchmal würde ich mich am liebsten dagegen auflehnen, dass ich als Frau erschaffen wurde. Wer als Mädchen zur Welt kommt, lernt zu kochen und sauber zu machen, die schmutzige Wäsche zu waschen, Kleider auszubessern, Butter und Käse zu machen und die kleinen Kinder zu füttern. Manchen Frauen bringt man auch die Kunst der Liebe bei und wie man sich für die Männer verschönt. Aber das ist es auch schon. Niemand gibt den Frauen Bücher, die ihnen die Augen zu öffnen vermögen.
Im ersten Jahr unserer Ehe schlich ich mich bei jeder
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