Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
»Ein Bauer hat mich damals mitgenommen. Er war ein großer Bewunderer von dir. Er erzählte mir, deine Predigten heilten das Traurigsein.«
»Früher nannte man mich den Wortzauberer«, sagte ich. »Aber das alles erscheint mir jetzt so weit entfernt. Ich will keine Predigten mehr halten. Ich glaube, damit bin ich fertig.«
»Du bist der Wortzauberer«, sagte Schams mit Nachdruck. »Nur ist dein Sinn nicht mehr aufs Predigen gerichtet, denn du hast jetzt ein singendes Herz.«
Ich wusste nicht, wie das gemeint war, und ich fragte auch nicht. Das Morgengrauen hatte ausgelöscht, was von der letzten Nacht noch übrig gewesen war, und den Himmel in ein reines Orangerot verwandelt. Vor uns in weiter Ferne erwachte die Stadt; Krähen stürzten sich auf Gemüsegärten, um an allem, was sie rauben konnten, herumzupicken, Türen quietschten, Esel schrien, und die Herde wurden angeheizt, damit der neue Tag begangen werden konnte.
»Überall streben die Menschen ganz auf sich gestellt danach, Erfüllung zu finden, und niemand leitet sie dabei an«, murmelte Schams kopfschüttelnd. »Deine Worte helfen ihnen. Und ich werde alles tun, um dir zu helfen. Ich bin dein Diener.«
»Das darfst du nicht sagen!«, entgegnete ich. »Du bist mein Freund.«
Schams sprach weiter, ohne meinen Einwand zu beachten. »Meine einzige Sorge gilt der Umgebung, in der du bisher gelebt hast. Als berühmter Prediger warst du zwar umringt von liebedienerischen Bewunderern, aber wie gut kennst du die gewöhnlichen Leute? Säufer, Bettler, Diebe, Huren, Spieler – die Untröstlichsten und am ärgsten Geknechteten? Können wir alle Geschöpfe Gottes lieben? Das ist eine schwierige Prüfung, nur die wenigsten bestehen sie.«
Aus seiner Miene sprachen Freundlichkeit und Sorge und sogar etwas wie mütterliches Mitgefühl.
»Du hast recht«, gab ich zu. »Mein Leben war immer behütet. Ich weiß nicht einmal, wie die einfachen Leute leben.«
Schams nahm einen Erdklumpen in die Hand, zerkrümelte ihn zwischen den Fingern und sagte leise: »Wenn es uns gelingt, das ganze Universum mit all seinen Verschiedenheiten und Widersprüchen zu umfassen, zerfließt alles zu einem.«
Mit diesen Worten ergriff er einen abgestorbenen Ast und zog einen großen Kreis in die Erde rings um die Eiche. Dann hob er die Arme zum Himmel, als wollte er von einem unsichtbaren Seil emporgehoben werden, und zählte die neunundneunzig Namen Gottes auf. Gleichzeitig begann er sich in dem Kreis um sich selbst zu drehen – erst langsam und bedächtig, dann mit immer mehr Geschwindigkeit wie der Wind am späten Nachmittag. Schon nach kurzer Zeit wirbelte er schnell und kraftvoll dahin wie eine stürmische Bö. Sein Entrücktsein zog mich so in den Bann, dass mir war, als drehte sich das ganze Universum – die Erde, der Mond und die Sterne – mit ihm. Ich sah diesem außergewöhnlichen Tanz zu und ließ meine Seele und meinen Körper von der Kraft einhüllen, die er verströmte.
Nach und nach wurde Schams langsamer, bis er schließlich zum Stehen kam. Mit jedem seiner heftigen Atemzüge hob und senkte sich seine Brust. Er war weiß im Gesicht, und seine Stimme klang mit einem Mal so tief, als käme sie von einem fernen Ort. »Das Universum ist ein Wesen. Alles und jeder ist durch ein unsichtbares Netz von Geschichten miteinander verbunden. Wir alle befinden uns in einem stummen Gespräch miteinander, ob wir es wahrhaben oder nicht. Füge niemandem Schaden zu. Sei mitfühlend. Und äußere dich nicht hinter dem Rücken über andere – und sei es nur eine harmlos scheinende Bemerkung! Die Worte, die deinen Mund verlassen, verschwinden nicht, sondern sind für immer im endlosen Raum aufbewahrt und werden zu gegebener Zeit zu uns zurückkehren. Der Schmerz eines einzigen Menschen quält uns alle. Die Freude eines einzigen Menschen bringt uns alle zum Lächeln. Daran gemahnt uns eine der vierzig Regeln.«
Er blickte mich fragend an. In der unergründlichen Tiefe seiner Augen lag ein Schatten der Verzweiflung, ein Anflug von Kummer, den ich noch nie an ihm gesehen hatte.
»Du wirst dereinst die Stimme der Liebe genannt werden«, sagte er. »In Ost und West werden Menschen, die nie dein Antlitz erblickt haben, von deiner Stimme beflügelt sein.«
»Wie soll es dahin kommen?«, fragte ich ungläubig.
»Durch deine Worte. Aber ich spreche nicht von Vorträgen und Predigten, sondern von Dichtung.«
»Dichtung? Ich schreibe keine Gedichte. Ich bin Gelehrter«, sagte ich, und mir
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