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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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achtete so sehr auf sich, dass ich trotz des Altersunterschieds älter aussah als sie.
    Sie starb einen völlig unerwarteten, einen dummen Tod. Auf dem nächtlichen Heimweg vom Besuch bei einem berühmten russischen Journalisten, der Asyl beantragen wollte, hatte sie mitten auf der Autobahn eine Panne. Und sie, die sich sonst immer an die Verkehrsregeln hielt, tat plötzlich etwas für sie ganz Untypisches: Anstatt die Warnblinkanlage einzuschalten und auf Hilfe zu warten, stieg sie aus und machte sich auf den Weg ins nächste Dorf. Sie trug einen braungrauen Trenchcoat und eine dunkle Hose und hatte keine Taschenlampe dabei oder sonst irgendetwas, um im Dunkeln besser sichtbar zu sein für die anderen. Sie wurde von einem Auto angefahren – einem Wohnwagengespann aus Jugoslawien. Der Fahrer behauptete, er habe sie nicht gesehen. So vollkommen hatte Margot sich mit der Nacht vereint.
    Einst war ich ein kleiner Junge. Die Liebe öffnete mir den Blick für ein erfüllteres Leben. Der Verlust der Frau, die ich geliebt hatte, veränderte mich dramatisch. Ich war nun weder ein Junge noch ein erwachsener Mann, sondern ein gefangenes Tier. Diese Phase meines Lebens bezeichne ich als meine Begegnung mit dem Buchstaben S in dem Wort »Sufi«.
    Hoffentlich habe ich dich nicht gelangweilt mit meinem langen Brief.
    Alles Liebe
    Aziz

DIE HURE WÜSTENROSE
    KONYA, JANUAR 1246
    B ordellarrest – so nennt man wohl, was mir meine Herrin, der Hermaphrodit, nach dem Skandal in der Moschee verordnet hat. Ich darf nirgendwo mehr hin, bin für immer eingesperrt. Aber das macht mir nichts aus, denn seit einiger Zeit fühle ich überhaupt nichts mehr.
    Das Gesicht, das mich jeden Morgen im Spiegel begrüßt, wird immer bleicher. Ich kämme mich nicht mehr und kneife mir nicht in die Wangen, damit sie rot werden. Die anderen Mädchen beschweren sich ständig über mein Aussehen, angeblich schreckt es die Freier ab. Gut möglich. Umso erstaunter war ich, als ich neulich erfuhr, dass ein bestimmter Kunde gerade auf mir bestand.
    Zu meinem Schrecken musste ich feststellen, dass es sich um Baybars handelte.
    Sobald wir allein im Zimmer waren, fragte ich ihn: »Was hat ein Wachmann wie du hier zu suchen?«
    »Dass ich ins Bordell gehe, ist nicht abartiger, als wenn eine Hure die Moschee betritt«, erwiderte er verächtlich.
    »Du hättest mich damals am liebsten sofort getötet, nicht wahr?«, sagte ich. »Ich verdanke Schams-e Tabrizi mein Leben.«
    »Ich will diesen widerlichen Namen nicht hören! Der Kerl ist ein Ketzer!«
    »Das stimmt nicht.« Ich weiß nicht, was ich mir dabei dachte, aber ich hörte mich sagen: »Er hat mich seit damals oft besucht.«
    »Ha! Ein Derwisch im Bordell!«, schnaubte Baybars. »Komisch, dass mich das so gar nicht überrascht.«
    »Nein, so war es nicht«, entgegnete ich.
    Ich hatte es nie jemandem erzählt und wusste nicht, warum ich es Baybars jetzt offenbarte, aber Schams hatte mich in den vergangenen Monaten jede Woche einmal besucht. Wie er es schaffte, sich hineinzuschleichen, ohne von den anderen, vor allem vom Wirt, bemerkt zu werden, war mir ein Rätsel. Jeder andere hätte wahrscheinlich auf schwarze Magie getippt. Aber ich wusste, dass es nichts damit zu tun hatte. Schams war ein guter Mensch. Ein Mann des Glaubens. Und er besaß viele Fähigkeiten. Anders als meine Mutter in meiner Kindheit brachte mir Schams als einziger Mensch vorbehaltloses Mitgefühl entgegen. Er hatte mich gelehrt, nie zu verzagen, was auch geschah. Jedes Mal wenn ich ihm erklärte, dass eine wie ich ihre Vergangenheit unmöglich hinter sich lassen kann, sagte er mir eine seiner Regeln vor. Die Vergangenheit ist eine Deutung, die Zukunft nichts als ein Truggebilde. Die Welt bewegt sich nicht wie auf einer Linie von der Vergangenheit in die Zukunft durch die Zeit, sondern die Zeit bewegt sich in endlosen Spiralen in uns und durch uns hindurch.
    Ewigkeit bedeutete nicht unendliche Zeit, sondern Zeitlosigkeit.
    Wer geistige Erleuchtung sucht, muss Vergangenheit und Zukunft aus seinen Gedanken verbannen und ganz im Augenblick bleiben.
    Schams sagte immer: »Außer dem Augenblick gibt es nichts und wird es nie etwas geben. Wenn du diese Wahrheit begriffen hast, brauchst du nichts mehr zu fürchten. Dann kannst du das Bordell für immer verlassen.«
    Baybars beobachtete mich. Dabei schielte sein rechtes Auge leicht zur Seite, so als wäre da noch jemand mit uns im Raum, jemand, den ich nicht sehen konnte. Er machte mir Angst.
    Es

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