Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
brach die Stimme.
Da erwiderte Schams mit feinem Lächeln: »Du, mein Freund, bist einer der besten Dichter, die die Welt je gesehen haben wird.«
Ich wollte schon widersprechen, doch die Entschiedenheit, mit der Schams mich ansah, hielt mich davon ab. Mir war auch gar nicht nach Streiten zumute. »Wie auch immer – was getan werden muss, tun wir gemeinsam. Wir werden diesen Weg zusammen gehen.«
Schams nickte geistesabwesend und fiel in ein unheimliches Schweigen. Sein Blick war auf die verblassenden Farben am Horizont gerichtet, und als er wieder zu sprechen begann, sagte er die unheilvollen Worte, die ich nie vergessen habe und die für immer Narben auf meiner Seele hinterließen: »So gern ich auch mit dir ginge, ich fürchte, du wirst es allein tun müssen.«
»Was soll das heißen? Wohin willst du?«, fragte ich.
Schams senkte den Blick und verzog wehmütig den Mund. »Das liegt nicht in meiner Hand.«
Plötzlich kam Wind auf und wehte uns ins Gesicht. Es wurde kühl, wie um uns vom Ende des Herbsts zu künden. Aus heiterem Himmel fielen feine, warme Regentropfen herab, so weich und zart, als würde ich von einem Schmetterlingsflügel berührt. Da durchfuhr mich der Gedanke, Schams könnte mich verlassen, zum ersten Mal wie ein stechender Schmerz in der Brust.
SULTAN WALAD
KONYA, DEZEMBER 1245
B ei allem Verständnis dafür, dass manche es nur als Geplänkel empfinden, schmerzt es mich tief, das Getratsche zu hören. Wie können die Leute nur so verächtlich und höhnisch von etwas reden, von dem sie so wenig wissen? Es ist eigenartig, ja fast furchterregend, wie fern die Menschen der Wahrheit sind. Sie verstehen nicht, wie fest das Band zwischen meinem Vater und Schams ist. Offenbar haben sie nie den Koran gelesen, sonst wüssten sie, dass darin ähnliche Geschichten von spiritueller Freundschaft erzählt werden, die zwischen Moses und Khidr beispielsweise.
Klar und deutlich steht es in der Sure al-Kahf. Moses war ein vorbildlicher Mann und so bedeutend, dass er später zum Propheten und zudem zum sagenumwobenen Anführer und Gesetzgeber wurde. Doch es gab eine Zeit, in der er sehr eines geistigen Gefährten bedurfte, damit sein drittes Auge geöffnet werde. Dieser Gefährte aber war Khidr, der Tröster der Betrübten und Entmutigten.
Khidr sagte zu Moses: »Ich bin mein Leben lang auf der Reise. Gott hat mich beauftragt, die Welt zu durchstreifen und zu tun, was getan werden muss. Du sagst, du willst mit mir gehen, doch wenn du mir folgst, darfst du nichts von dem, was ich tue, in Frage stellen. Erträgst du es, mir Gesellschaft zu leisten, ohne je etwas anzuzweifeln? Kannst du mir ganz vertrauen?«
»Ja«, antwortete Moses. »Lass mich mit dir gehen. Ich verspreche dir, niemals Fragen zu stellen.«
So brachen sie auf und kamen durch mehrere Städte. Doch als Moses sah, dass Khidr so sinnlose Taten beging wie einen Jungen zu töten und ein Boot zu versenken, konnte er seine Zunge nicht mehr im Zaum halten. »Warum hast du diese Gräuel begangen?«, fragte er verzweifelt.
»Was ist mit deinem Versprechen?«, gab Khidr zurück. »Sagte ich nicht, du darfst keine Fragen stellen?«
Jedes Mal entschuldigte sich Moses und versprach, nicht zu fragen, und jedes Mal brach er sein Versprechen. Schließlich erklärte Khidr ihm den Grund jeder seiner Handlungen, und Moses begann allmählich zu verstehen, dass etwas, was niederträchtig oder unselig erscheint, oft ein verborgener Segen ist, während sich etwas Erfreuliches auf lange Sicht als schädlich erweisen kann. Seine kurze Freundschaft mit Khidr sollte die erhellendste Erfahrung seines Lebens werden.
Wie in diesem Gleichnis gibt es Freundschaften auf der Welt, die den gewöhnlichen Menschen unverständlich bleiben, in Wahrheit aber zu größerer Weisheit und tieferer Einsicht führen. Als eine solche Freundschaft betrachte ich Schams’ Dasein im Leben meines Vaters.
Ich weiß aber, dass andere es anders sehen, und ich sorge mich. Leider macht Schams es den Menschen nicht leicht, ihn zu mögen. So sitzt er auf peinlich tyrannische Weise vor dem Tor der Koranschule, und jeder, der hineingehen und mit meinem Vater sprechen will, wird von ihm angehalten und ausgefragt.
»Aus welchem Grund willst du den großen Maulana sprechen?«, fragt er. »Welches Geschenk hast du mitgebracht?«
Die Leute wissen nicht, was sie sagen sollen, sie beginnen zu stottern, und dann bitten sie gar um Verzeihung. Und Schams schickt sie fort.
Manche Besucher kehren nach
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