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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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einigen Tagen mit Geschenken zurück. Sie kommen mit Trockenobst, Silberdirhems, Seidenteppichen und neugeborenen Lämmern. Doch der Anblick dieser Dinge steigert Schams’ Zorn. Mit funkelnden schwarzen Augen und wutentbrannter Miene jagt er sie einmal mehr davon.
    Eines Tages wurde ein Mann so wütend auf Schams, dass er brüllte: »Wer gibt dir das Recht, Maulanas Tor zu versperren? Jeden fragst du, was er bringt, aber was ist mit dir – was hast du ihm gebracht?«
    »Mich selbst«, sagte Schams daraufhin gerade so laut, dass man es hören konnte. »Ich habe meinen Kopf für ihn geopfert.«
    Darauf trottete der Mann davon, seine Worte waren nur noch ein Murmeln. Er schien eher verwirrt als empört.
    Am gleichen Tag fragte ich Schams, ob es ihn nicht störe, dass er so missverstanden und unterschätzt werde. Es gelang mir nur mit Mühe, meine Beunruhigung zu verbergen, als ich ihm mitteilte, dass er sich in letzter Zeit viele Feinde gemacht habe.
    Er sah mich so verständnislos an, als wüsste er gar nicht, wovon ich sprach. »Aber ich habe keine Feinde«, sagte er achselzuckend. »Wer Gott liebt, hat vielleicht Kritiker und sogar Rivalen, doch niemals Feinde.«
    »Mag sein, aber du streitest dich mit den Leuten«, gab ich zu bedenken.
    Da verkündete Schams voller Leidenschaft: »Ich streite mich nicht mit ihnen, sondern mit ihrem Ich. Das ist etwas anderes.«
    Und dann fügte er leise hinzu: »Das ist eine der vierzig Regeln: Die Welt ist wie ein schneebedeckter Berg, von dem das Echo deiner Stimme widerhallt. Was immer du sagst, es sei gut oder böse, kommt irgendwann zu dir zurück. Deshalb wird alles nur schlimmer, wenn du über jemanden, der schlechte Gedanken über dich hegt, ähnliche Dinge verbreitest. So kommt mehr und mehr Bosheit in die Welt. Rede stattdessen vierzig Tage und Nächte lang nur gut über diesen Menschen, und am Ende der vierzig Tage wird sich alles verändert haben, denn du hast dich in deinem Inneren verändert.«
    »Aber die Leute sagen alles Mögliche über dich. Es heißt sogar, dass es ein unaussprechliches Band zwischen zwei Männern geben muss, wenn sie sich so sehr lieben.« Gegen Ende des Satzes war mir beinahe die Stimme erstorben.
    Schams legte mir die Hand auf den Arm und lächelte mich auf seine beruhigende Art an. Und dann erzählte er mir eine Geschichte.
    Zwei Männer reisten von einer Stadt in eine andere. Sie kamen an einen Bach, dessen Wasser nach starkem Regen gestiegen war. Als sie ihn eben durchqueren wollten, bemerkten sie eine schöne junge Frau, die ganz allein dastand und der Hilfe bedurfte. Der eine Mann ging sofort zu ihr, hob sie hoch und trug sie auf seinen Armen durch den Bach. Dann ließ er sie nieder, winkte ihr zum Abschied zu, und die beiden Männer setzten ihre Reise fort.
    Auf dem restlichen Weg war der zweite Mann ungewöhnlich still und verdrießlich und überhörte die Fragen des Freundes. Nachdem er ein paar Stunden lang seinem Missmut gefrönt hatte, platzte es schließlich aus ihm heraus. »Warum hast du diese Frau berührt? Sie hätte dich verführen können! Männer und Frauen dürfen einander nicht so nahe kommen!«
    Da erwiderte der erste Mann in aller Ruhe: »Mein Freund, ich habe die Frau über den Bach getragen und sie dann abgesetzt. Du bist es, der sie seither getragen hat.«
    »Manche Menschen sind so«, sagte Schams. »Sie tragen ihre Ängste und Vorurteile auf dem Buckel und brechen unter der Last fast zusammen. Wenn du von jemandem hörst, der die Tiefe der Verbindung zwischen deinem Vater und mir nicht verstehen kann, sag ihm, er solle seinen Geist reinigen!«

ELLA
    NORTHAMPTON, 15. JUNI 2008
    B evor ich, geliebte Ella, deine Frage beantworte und dir erzähle, wie ich Sufi wurde, lass mich dir versichern: Es geschah nicht von heute auf morgen.
    Ich wurde als Craig Richardson in Kinlochbervie, einer Hafenstadt im schottischen Hochland, geboren. Wenn ich an die Vergangenheit denke, erinnere ich mich immer liebevoll an die Fischerboote mit ihren vom letzten Fang schwer beladenen Netzen, von denen die Tangfäden herabhingen wie grüne Schlangen, an die Strandläufer, die nach Würmern pickend am Wasser entlangtippelten, an das gelb blühende Jakobs-Greiskraut, das an den unvermutetsten Stellen wuchs, und an den stechenden, salzigen Geruch des dahinterliegenden Meers. Dieser Geruch, ebenso wie der Geruch der Berge und Lochs, und die triste Ruhe des Lebens im Nachkriegseuropa bildeten den Hintergrund, vor dem sich meine Kindheit

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