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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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ganz neu zu leben lernt, und wie eine Frau, die bereit ist, Leben in ihrem Schoß zu hegen.
    »Wie meinst du das – ›Wenn du es in dir hast‹?«, fragte ich. »Ist das so etwas Ähnliches wie Schicksal?«
    »Ja, genau.« Schams nickte.
    »Aber was heißt Schicksal?«
    »Ich kann dir nicht sagen, was Schicksal ist. Nur, was es nicht ist. Es gibt für diese Frage sogar eine Regel. Schicksal bedeutet nicht, dass dein Leben streng vorbestimmt ist. Alles dem Geschick zu überlassen und nicht selbst zur Musik des Universums beizutragen ist deshalb ein Zeichen reiner Dummheit.
    Die Musik des Universums ist allesdurchdringend und wird auf vierzig verschiedenen Ebenen komponiert.
    Dein Schicksal ist die Ebene, auf der du deine Melodie spielst. Vielleicht geschieht es auf immer demselben Instrument, aber wie gut du spielst, liegt ausschließlich an dir.«
    Ich muss ziemlich verwirrt gewirkt haben, denn Schams fühlte sich bemüßigt, eine Erklärung nachzuliefern. Er legte seine Hand auf meine und drückte sie leicht. Seine dunklen Augen funkelten, als er sagte: »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen.«
    Und dann erzählte er mir diese Geschichte:
    Eine junge Frau fragte einen Derwisch, was es mit dem Schicksal auf sich habe. »Komm mit«, sagte der Derwisch. »Wir sehen uns gemeinsam die Welt an.« Schon bald trafen sie auf eine Menschenmenge. Ein Mörder wurde zum Galgen auf dem Marktplatz geführt. Der Derwisch fragte: »Wird dieser Mann hingerichtet, weil ihm jemand das Geld gab, mit dem er die Mordwaffe kaufte? Oder weil ihn niemand abhielt, als er die Tat beging? Oder weil ihn danach jemand fasste? Wo liegt in diesem Fall die Ursache und wo die Wirkung?«
    Ich unterbrach ihn mit den Worten: »Der Mann wird gehängt, weil er etwas Grauenvolles getan hat. Er bezahlt für das, was er begangen hat. Das eine ist die Ursache, das andere die Wirkung. Es gibt Gutes und Böses, und dazwischen liegt ein Unterschied.«
    »Ah, süße Kimya«, entgegnete Schams so leise, als wäre er plötzlich müde. »Du magst Unterscheidungen, weil du glaubst, sie machten das Leben einfacher. Aber was, wenn die Dinge nicht immer so eindeutig sind?«
    »Gott will aber, dass wir eindeutig sind. Sonst gäbe es die Begriffe ›halal‹ und ›haram‹ gar nicht. Es gäbe keinen Himmel und keine Hölle. Stell dir nur vor, man könnte die Menschen nicht mit der Hölle ängstigen und mit dem Himmel ermutigen! Dann ginge es sehr viel schlimmer zu auf der Welt.«
    Schneeflocken jagten im Wind dahin, und Schams beugte sich zu mir vor, um mir das Kopftuch enger zu binden. Einen Augenblick lang stand ich wie erstarrt da und atmete seinen Duft ein – eine Mischung aus Sandelholz und feinem Amber, in der schwach ein spröder, stechender Geruch mitschwang. Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus, und zwischen meinen Beinen spürte ich eine Welle des Verlangens. Wie beschämend – und doch auf merkwürdige Weise so gar nicht unangenehm.
    »Im Zustand der Liebe verschwimmen die Grenzen«, sagte Schams und betrachtete mich halb mitleidig, halb besorgt.
    Sprach er von der Liebe zu Gott oder von der Liebe zwischen Mann und Frau? Spielte er auf uns beide an? Gab es überhaupt so etwas wie »uns beide«?
    Nichts von meinen Gedanken ahnend fuhr Schams fort: »Ich schere mich nicht um haram oder halal. Am liebsten würde ich das Höllenfeuer löschen und den Himmel verbrennen, damit die Menschen Gott endlich lieben können aus keinem anderen Grund als der Liebe.«
    »So etwas solltest du nicht laut sagen. Die Menschen sind niederträchtig. Nicht jeder würde es verstehen«, erwiderte ich, ohne mir darüber im Klaren zu sein, dass ich über diese Warnung länger würde nachdenken müssen, um ihre ganze Bedeutung zu verstehen.
    Schams schenkte mir ein beherztes, ein fast tapferes Lächeln. Ich ließ es zu, dass er mich festhielt. Seine Hand auf meiner fühlte sich heiß und schwer an.
    »Du magst recht haben, aber ist das nicht noch ein Grund mehr, offen zu sagen, was ich denke? Außerdem sind engstirnige Menschen sowieso taub. Für ihre versiegelten Ohren ist alles, was ich sage, reine Blasphemie.«
    »Während für mich alles, was du sagst, nur süß klingt!«
    Schams sah mich so verwundert an, dass es an Entgeisterung grenzte. Dabei war ich selbst noch mehr erschrocken als er. Wie hatte ich das nur sagen können! Hatte ich den Verstand verloren? Ich war wohl von einem Dschinn besessen.
    »Entschuldige, aber ich gehe jetzt besser.« Ich sprang auf.
    Meine

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