Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
abspielte.
Während sich die Welt in die sechziger Jahre stürzte und zum Schauplatz von Studentenprotesten, Flugzeugentführungen und Revolutionen wurde, war ich in meinem stillen grünen Winkel von alldem völlig abgeschnitten. Mein Vater besaß ein Antiquariat, meine Mutter züchtete Schafe, die hochwertige Wolle produzierten. Als Kind hatte ich ein wenig von der Einsamkeit eines Schäfers wie auch von der Introvertiertheit eines Buchhändlers. Ich kletterte oft auf einen alten Baum und betrachtete die Landschaft, und nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, ich würde nicht mein ganzes Leben dort verbringen. Hin und wieder empfand ich tief im Herzen eine Sehnsucht nach Abenteuern, aber ich mochte Kinlochbervie und liebte die Vorhersehbarkeit meines Lebens. Wie hätte ich auch wissen sollen, dass Gott andere Pläne mit mir hatte?
Kurz nach meinem zwanzigsten Geburtstag entdeckte ich die beiden Dinge, die mein Leben für immer verändern sollten. Das Erste war eine Profikamera. Ich belegte einen Fotografierkurs, ohne zu ahnen, dass dieses scheinbar simple Hobby zu meiner lebenslangen Passion werden würde. Das Zweite war die Liebe in Gestalt einer Holländerin, die mit mehreren Freunden durch Europa reiste. Sie hieß Margot.
Sie war acht Jahre älter als ich, wunderschön, groß gewachsen und sehr, sehr eigenwillig. Sie betrachtete sich als unkonventionell, idealistisch, radikal, bisexuell, als Linke, als individuelle Anarchistin, Multikulturalistin und Menschenrechtsaktivistin, als Ökofeministin und Verfechterin der Gegenkultur – alles Zuschreibungen, die ich auf Nachfrage nicht einmal definieren könnte. Aber schon bald hatte ich erkannt, dass sie noch etwas war, nämlich eine Pendelfrau. Himmelhoch jauchzend, dann wieder zu Tode betrübt innerhalb weniger Minuten. Margot war die Unberechenbarkeit in Person. Ihr ständiger Zorn galt dem, was sie »die Scheinheiligkeit des bürgerlichen Lebensstils« nannte; sie hinterfragte jede Kleinigkeit und lag stets im Clinch mit der Gesellschaft. Mir ist es bis heute ein Rätsel, warum ich damals nicht vor ihr floh. Aber ich tat es nun mal nicht, sondern ließ mich in den Mahlstrom ihrer Lebendigkeit hineinziehen. Ich war bis über beide Ohren in sie verliebt.
Sie war eine völlig unmögliche Mischung, erfüllt von revolutionären Ideen, unbändigem Mut und hemmungsloser Kreativität, zur gleichen Zeit aber zerbrechlich wie eine Kristallblume. Ich schwor mir, bei ihr zu bleiben und sie nicht nur vor der Außenwelt zu schützen, sondern auch vor sich selbst. Ob sie mich je so liebte wie ich sie? Ich glaube nicht. Aber ich weiß, dass sie mich auf ihre eigene egozentrische und selbstzerstörerische Art geliebt hat.
So landete ich mit zwanzig Jahren in Amsterdam, wo wir heirateten. Margot engagierte sich für Flüchtlinge, die aus politischen oder humanitären Gründen nach Europa gekommen waren. Als Angestellte einer Hilfsorganisation für Immigranten half sie traumatisierten Menschen aus den elendsten Ecken der Welt, in Holland Fuß zu fassen. Sie war ihr Schutzengel. Familien aus Indonesien, Somalia, Argentinien und Palästina benannten ihre Töchter nach ihr.
Ich selbst war zu sehr damit beschäftigt, Karriere zu machen, als dass mich irgendwelche hehren Ziele interessiert hätten. Nach Abschluss meines Wirtschaftsstudiums begann ich in einem internationalen Unternehmen zu arbeiten. Die Tatsache, dass meine Stellung und mein Gehalt Margot völlig egal waren, ließ mich nur umso eifriger Statussymbolen hinterherjagen. Ich gierte nach Macht und verbiss mich geradezu in schwierige Aufgaben.
Ich hatte unser Leben penibel durchgeplant. Nach zwei Jahren würden wir mit dem Kinderkriegen beginnen. Zwei kleine Mädchen vervollständigten mein Bild der idealen Familie. Ich sah mit großer Zuversicht in die Zukunft. Schließlich lebten wir an einem der sichersten Orte der Welt und nicht in einem der notleidenden Länder, die Immigranten auf den europäischen Kontinent spülten wie ein kaputter Wasserhahn. Wir waren jung, gesund und verliebt. Nichts konnte schiefgehen. Kaum zu glauben, dass ich inzwischen fünfundvierzig bin und Margot nicht mehr lebt.
Sie legte mehr Wert auf eine gesunde Lebensweise als ich. Zu einer Zeit, die dieses Wort noch gar nicht kannte, ernährte sie sich konsequent vegan, aß nur frische Sachen, trieb regelmäßig Sport und nahm keine Drogen. Ihr Engelsgesicht strotzte vor Gesundheit, und ihr Körper blieb schlank, straff und jugendlich. Sie
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