Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
mich gegen die Wand.
Es war nicht das erste Mal. Ich war schon öfter von Freiern geschlagen worden, doch so heftig war es noch nie.
Ich fiel zu Boden. Baybars begann mir in die Rippen und gegen die Beine zu treten, wobei er mich übel beschimpfte. In diesem Augenblick hatte ich ein ganz merkwürdiges Erlebnis. Während ich mich vor Schmerzen wand und mein Körper von der Wucht der Schläge zerschmettert wurde, trennte sich meine Seele – oder das, was sich wie meine Seele anfühlte – vom Leib und verwandelte sich, leicht wie Papier und frei, in einen Drachen.
Ich schwebte in der Luft. Wie in eine friedliche Leere geworfen, in der ich nichts aushalten und nirgendwohin gehen musste, segelte ich dahin. Ich flog über frisch abgeerntete Weizenfelder, auf denen Bauernmädchen standen, deren Kopftücher im Wind flatterten, und in der Nacht leuchteten die Glühwürmchen wie märchenhafte Lichter. Mir war, als fiele ich, aber hinauf, hinauf in den bodenlosen Himmel.
War das der Tod? Wenn er so war, dann barg er keinen Schrecken. Mein Kummer löste sich auf. Ich war an einem Ort vollkommener Reinheit und Leichtigkeit gelandet, in einem magischen Bereich, in dem mich nichts mehr herabziehen konnte. Und jäh wurde mir bewusst, dass ich meine Angst lebte und dass das zu meinem Erstaunen nicht schrecklich war. Hatte mich nicht die ganze Zeit gerade die Angst, Leid und Not zu erfahren, daran gehindert, das Bordell zu verlassen? Ich begriff – und mein Herz wurde weit dabei: Wenn es mir gelang, den Tod nicht mehr zu fürchten, dann konnte ich dieses Rattenloch verlassen.
Schams-e Tabrizi hatte recht. Der einzige Schmutz, den es gab, war innen. Ich schloss die Augen und stellte mir dieses andere Ich vor. Unberührt war es und reumütig, es sah viel jünger aus, und es verließ das Bordell und ging einem neuen Leben entgegen. So strahlend jugendlich und voll Selbstvertrauen wäre mein Gesicht gewesen, hätte ich jemals im Leben Geborgenheit und Liebe erfahren. Der Anblick war so verlockend und trotz des Blutes vor meinen Augen und der Schmerzen in meinen Rippen so wirklich, dass ich plötzlich lächeln musste.
KIMYA
KONYA, JANUAR 1246
B lutrot war mein Gesicht angelaufen, und ich schwitzte sogar ein bisschen, als ich endlich den Mut aufbrachte, Schams-e Tabrizi anzusprechen. Schon seit Wochen hatte ich ihn nach der tiefsten Lesart des Korans fragen wollen, doch es war nie etwas daraus geworden. Wir lebten zwar unter einem Dach, aber unsere Wege kreuzten sich nie. Heute Morgen jedoch tauchte, als ich gerade den Hof kehrte, Schams neben mir auf. Er war allein und zum Reden aufgelegt. Und diesmal gelang es mir nicht nur, mich länger mit ihm zu unterhalten, sondern auch, ihm dabei in die Augen zu schauen.
»Wie geht es dir, liebe Kimya?«, fragte er herzlich.
Es entging mir nicht, dass er benommen wirkte, so als wäre er gerade erst aus dem Schlaf oder aus einer Vision erwacht. Ich wusste, dass er Visionen hatte – in letzter Zeit häufiger denn je –, und erkannte mittlerweile die Anzeichen, denn danach war er stets bleich, und seine Augen wirkten verträumt.
»Es kommt ein Sturm auf«, murmelte er und blickte blinzelnd in den Himmel, aus dem graue Flocken herabwirbelten und den ersten Schnee des Jahres ankündigten.
Es schien mir der richtige Augenblick zu sein, um ihm die Frage zu stellen, die mich so umtrieb. »Du hast mir erklärt, dass unser Verständnis des Koran immer genauso tief ist wie unsere Einsicht«, sagte ich zögerlich. »Ich wollte dich schon seit Langem nach der vierten Stufe fragen.«
Schams wandte sich mir zu und musterte mein Gesicht. Ich mochte es, wenn er mich so aufmerksam betrachtete. Dann sah er immer am schönsten aus, mit aufgeworfenen Lippen und leicht gefurchter Stirn.
»Die vierte Stufe ist unaussprechlich. Es gibt eine Ebene, hinter der unsere Rede versagt. Wer in den Bereich der Liebe eintritt, braucht keine Sprache.«
»Ich würde so gern irgendwann einmal in den Bereich der Liebe eintreten«, platzte ich heraus, was mir sofort peinlich war. »Damit ich den Koran mit tieferer Einsicht lesen kann, meine ich.«
Schams’ Mund verzog sich zu einem sonderbaren kleinen Lächeln. »Wenn du es in dir hast, wird es so kommen«, sagte er. »Dann wirst du in die vierte Unterströmung eintauchen und zum Strom werden.«
Ich hatte die widersprüchlichen Gefühle ganz vergessen, die nur Schams in mir hervorzurufen vermochte. In seiner Gegenwart fühlte ich mich gleichzeitig wie ein Kind, das
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