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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Wangen glühten vor Scham, und mein Herz klopfte, als ich an all das dachte, was wir gesagt und ungesagt gelassen hatten, und ich lief durch den Hof und ins Haus. Doch noch während ich lief, spürte ich, dass eine Schwelle übertreten worden war. Nach diesem Ereignis konnte ich die Wahrheit, die ich schon immer gewusst hatte, nicht mehr leugnen: Ich hatte mein Herz an Schams-e Tabrizi verloren.

SCHAMS
    KONYA, JANUAR 1246
    B eleidigen, sich gegenseitig beschimpfen, das ist vielen Menschen zur zweiten Natur geworden. Die Gerüchte über mich kamen mir zu Ohren. Es gibt ja nicht wenige davon, seit ich in Konya bin. Es überrascht mich nicht. Obwohl der Koran klar und deutlich sagt, dass das Verleumden zu den größten Sünden zählt, bemüht sich kaum einer, es zu vermeiden. Die Leute verdammen den, der Wein trinkt, und halten Ausschau nach ehebrecherischen Frauen, um sie zu steinigen, aber die üble Nachrede, die in den Augen Gottes eine weitaus schwerwiegendere Sünde darstellt, nehmen sie nicht als eine Missetat wahr.
    Dies alles erinnert mich an eine Geschichte.
    Ein Mann kam zu einem Sufi gelaufen und sagte atemlos: »Sieh nur, dort drüben tragen Leute Servierbretter!«
    Der Sufi erwiderte ruhig: »Was kümmert es uns? Geht es mich etwas an?«
    »Ja, sie tragen die Servierbretter zu deinem Haus!«, rief der Mann.
    »Geht es dann dich etwas an?«, fragte der Sufi.
    Leider sehen die Leute immer nur die Servierbretter der anderen. Anstatt sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, fällen sie Urteile über andere. Ich staune immer wieder über das, was da alles erfunden wird. Wenn es um Verdacht und Verleumdung geht, kennt die Fantasie keine Grenzen.
    Einige Bewohner dieser Stadt glauben offensichtlich, dass ich der heimliche Anführer der Assassinen bin. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, ich sei der Sohn des letzten ismailitischen Imams von Alamut. Ich würde die schwarze Magie und die Hexenkunst so gut beherrschen, heißt es, dass jeder, den ich verfluchte, auf der Stelle sein Leben aushauche. Dann gibt es welche, die mich ungeheuerlicherweise beschuldigen, ich hätte Rumi mit einem Zauber belegt und würde ihn, damit er den Zauber nicht breche, jeden Tag dazu zwingen, im Morgengrauen Schlangensuppe zu trinken.
    Wenn ich solches Geschwätz höre, lache ich nur und entferne mich. Was sollte ich sonst schon tun! Welcher Schaden sollte einem Derwisch aus dem Verdruss anderer erwachsen? Wenn das Meer die ganze Welt verschlänge – was machte es einer Ente aus?
    Doch ich sehe, dass die Menschen in meiner Nähe besorgt sind, allen voran Sultan Walad. Er ist ein so aufgeweckter junger Mann, bestimmt wird er schon bald der beste Berater seines Vaters sein. Und dann ist da noch Kimya, die süße Kimya … Auch sie macht sich offenbar Sorgen. Das Schlimmste an dem Gewäsch ist allerdings, dass Rumi dadurch so herabgewürdigt wird. Er ist es, im Gegensatz zu mir, nicht gewohnt, verleumdet zu werden. Es quält mich, mitanzusehen, wie sehr er unter dem dummen Gerede leidet. Maulana besitzt große innere Schönheit. Ich dagegen besitze sowohl Schönheit als auch Hässlichkeit. Mir fällt es leichter als ihm, mit der Hässlichkeit anderer umzugehen. Aber wie soll ein hochgelehrter Mann, der es gewohnt ist, ernsthafte Gespräche zu führen und logische Schlüsse zu ziehen, mit dem Geschwätz ungehobelter Leute zurechtkommen?
    Kein Wunder, dass der Prophet Mohammed sagte: »Mit drei Arten von Menschen müsst ihr auf dieser Welt Mitleid haben. Mit dem Reichen, der sein Vermögen verloren hat, mit dem Geachteten, der sein Ansehen verloren hat, und mit dem Weisen, der von Unwissenden umgeben ist.«
    Und doch glaube ich, dass all dies auch etwas Gutes für Rumi haben könnte. Die Verleumdung ist ein schmerzhafter, aber notwendiger Teil von Rumis innerer Verwandlung. Sein ganzes Leben lang wurde er bewundert, geachtet und nachgeahmt und besaß einen untadeligen Ruf. Er weiß nicht, wie es ist, wenn man von anderen missverstanden und kritisiert wird. Ebenso wenig wurde er je von der Verletzlichkeit und Einsamkeit geplagt, die sonst jeden hin und wieder befallen. Nie wurde sein Ich durch andere beschädigt oder auch nur angekratzt. Aber genau das braucht er. So kränkend es jetzt auch sein mag, die üble Nachrede wird sich letztlich als günstig erweisen für ihn und den Weg, den er geht. Das ist die Regel Nummer dreißig: Der wahre Sufi hält auch dann geduldig stand, wenn er von allen Seiten beschuldigt, angegriffen und

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