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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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denen die Kraft zum Widerstand schon fehlte oder die wirklich den Himmel am Abend ihres Lebens nicht wider sich aufbringen wollten. Die Hände wie zum Gebet vor die Brust gefaltet, taten sie jetzt den ersten Schritt auf dem großen Passionsweg. Das geschah alles so gemessen, so ganz inwendig, daß es nicht den Eindruck eines folgenschweren Entschlusses, sondern einer religiösen Zeremonie erweckte: als ob es den Menschen beschieden sei, ohne sich erst zum Sterben auszustrecken, schreitenden Fußes ins Grab zu steigen. Einer. Und wieder einer. Ein Paar. Und dann mehrere. Dann wieder ein Paar. Nokhudians Schar mochte zum Schluß etwa vierhundert Seelen umfassen, jene Mitglieder der protestantischen Gemeinde ungerechnet, die aus Krankheits- oder anderen Gründen hatten zu Hause bleiben müssen. In ihnen nahm der Pastor einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung von Bitias, dem zweitgrößten Ort des Tales, mit sich. Die große Masse verfolgte den stockenden Gang ihrer Landsleute, die sich zum Gehorsam entschieden, mit gebannten Augen. Kein Wort, kein Laut störte. Der letzte aber, der mit großer Verspätung zu Nokhudians Truppe stieß, war ein verhutzelter Mensch, der an seinem Stock wie ein Betrunkener schwankte und mit sich selbst sprach. Diese den Leuten wohlbekannte Spottgestalt aus Kebussije, die wahrscheinlich gar nicht verstand, worum es ging, löste in der großen Menge eine häßliche und überhebliche Regung aus. Ursprünglich wars nur der Anblick des Verblödeten, der zum gewohnten Mutwillen reizte. Dann aber trat der Hochmut dazu: Hier sind die Tapferen und dort die Feigen! Hier stehen die Starken, die Vollgültigen, und dort die Krüppel. Es geschah weiter nichts, als daß ein Jugendlicher irgend ein lautes Hohnwort ausstieß, von dem sich ein wellenförmiges Lachen über die ganze Versammlung verbreitete. Ter Haigasun aber sprang mit einem Satz in die festgekeilte Masse, die er mit beiden Armen zerteilte, als wolle er bis zu dem Kern der Gemeinheit, dem Spötter selbst vordringen, ihn herausholen und züchtigen. Sein Gesicht war dunkel vor Zorn. Die Kapuze fiel von dem kurzen eisengrauen Haar zurück. In seinen Augen funkelte Mord:
    »Welcher Hund wagt es? Welche Teufel lachen!?«
    Er schlug die Faust mehrmals heftig an seine Brust, um wenigstens für die Spötter sich selbst zu strafen und seine Wut zu beruhigen. Dann aber ging er in der neuen Stille auf Harutiun Nokhudian und seine Schar zu, blieb in einiger Entfernung stehn, verbeugte sich tief und sagte mit seiner schallenden Priesterstimme:
    »Ihr werdet für uns immer heilig sein. Mögen auch wir heilig sein für euch!«
    Bagradians Geist fieberte. Ein ungedämmter Strom von Einfällen riß ihn fort. Das große Verteidigungswerk arbeitete leidenschaftlich in ihm weiter. Da die Entscheidung gefallen war, folgte er den Vorgängen nur mit halbem Ohr. Sein aufgepeitschtes Hirn dachte und beobachtete zugleich. Welch ein ehrfurchtgebietender Riese konnte dieser Ter Haigasun sein, der sonst die Augen niederschlug, wenn man mit ihm sprach. Unschätzbar ist es, blitzte es in ihm auf, daß ich für den Kampf diese bodenständige Autorität in meinem Rücken haben werde. Auch daß der gute Nokhudian und ein paar hundert Kampfuntaugliche sich anders entschlossen haben, ist für uns ein Glücksfall. Sie haben die wichtige Aufgabe, vor den Saptiehs unsre Absichten und Bewegungen zu verschleiern, bis zum letzten Augenblick. Die Dörfer dürfen nicht leer sein. Die Türken sollen erst dann Verdacht fassen, bis wir für den Angriff gerüstet sind. Unaufhörlich verwoben sich die Dinge in Gabriels Plan. Der rechnende Verstand seiner Ahnen, Großvater Awetis’ Klugheit kam nun auch in dem weltfremden Enkel zum Vorschein, in diesem ahnungslosen Idealisten, als welchen ihn die geriebenen Kaufleute der weiteren Verwandtschaft immer belächelt hatten. Jeder gedachten Tatsache entspann sich ein unentwirrbares Fadengespinst von Folgen, und nicht ein einziger Faden war unwesentlich. Ein ungestümer Ehrgeiz hatte sich Bagradians bemächtigt. Drei Tage nach dem heutigen Sonntag, am Mittwoch also, würde nach Ali Nassifs Geständnis der Müdir mit seinen Leuten kommen. Bis Mittwoch mußte mithin alles den Grundzügen nach fertig sein, um in den restlichen Tagen ausgebaut zu werden. Jetzt war die Stunde gekommen, den Glauben seines ganzen Lebens zu erproben, daß der Geist über den Stoff siegen müsse, auch über die gesteigerten Erscheinungsformen alles Stofflichen, über

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