Die vierzig Tage des Musa Dagh
Haigasun:
»Es ist nicht nur der Wille des Volkes dort draußen, das Ihnen die meisten Stimmen gegeben hat, Ter Haigasun, es ist der Wille von uns allen, den ich hier ausspreche: Wir bitten Sie, das Oberhaupt unseres Kampfes zu sein. Sie waren schon in friedlicher Zeit zum Führeramt eingesetzt und haben es bis heute als geistlicher Vorstand der Gemeinden aufopfernd erfüllt. Gott will es, daß sich Ihr Amt nun durch die Grausamkeit der Menschen erweitert. Wir wollen Ihnen alle in die Hand geloben, daß wir uns bei den Beschlüssen, die wir treffen, bei Vorkehrungen, die wir anordnen, Ihrem entscheidenden Wort ohne Widerspruch unterwerfen werden. Erst durch Ihre Stimme werden die Entschließungen des Führerrates Rechtmäßigkeit gewinnen und dadurch für unser ganzes Volk zu bindenden Gesetzen erhoben sein.«
Die kleine Rede Bagradians brachte nur Selbstverständliches. Der oberste Rang kam niemandem andern zu als Ter Haigasun. Über diese feststehende Tatsache hätte nicht einmal Lehrer Hrand Oskanian eine heimliche Grimasse zu schneiden gewagt. Dennoch aber wirkten Gabriels Worte auf die Anwesenden angenehm, zumal auf jene, die ihm noch fremd und mißtrauisch gegenüberstanden. Diese angenehme Wirkung hatte zwei Ursachen. Manche wähnten nämlich, der landfremde »Franke« werde sich kraft seiner abendländischen Überheblichkeit die Rolle des Oberhauptes anmaßen. Und dann – dieser Grund war noch wichtiger – hatte Bagradians Ansprache sowohl in ihrer feierlichen Form als auch in ihrem rechtlichen Inhalt erst den Boden geschaffen, auf dem sich alles Künftige entwickeln konnte. Ganz unmerklich erfloß aus jenen wenigen Worten ein Staatsgrundgesetz für dieses neue Gemeinwesen, das in Bildung begriffen war. Zum Zeichen der Entgegennahme des Amtes und der schweren Verantwortung bekreuzigte sich Ter Haigasun schweigend. Von diesem Augenblick an gab es zwei legale Mächte, den Führerrat und das Volksoberhaupt, das zwar diesem Rate vorsaß, doch erst durch seine Anerkennung dessen Beschlüsse zum Gesetz erhob. Jeder einzelne Mann trat nun zu Ter Haigasun und küßte ihm nach der Sitte die Hand, wodurch er ihm seine Verehrung bezeigte und zugleich das Gelöbnis leistete. Erst nach dieser Zeremonie bildete sich ein großer Kreis um mehrere zusammengeschobene Tische. Gabriel Bagradian hatte vor sich die Kriegskarten und sämtliche Aufzeichnungen liegen. Hinter ihm nahm Samuel Awakian Platz, um immer bei der Hand zu sein. Nachdem Gabriel durch einen Blick das Wort erbeten hatte, erhob er sich:
»Vor zwei Stunden ist die Sonne untergegangen, meine Freunde, in sechs Stunden geht sie wieder auf. Wir haben nur sechs kurze Stunden Zeit, um die ganze innere Arbeit fertigzustellen. Wenn wir nach dieser Nacht vor das Volk hinaustreten, darf es keine Unsicherheiten mehr geben. Unser Wille muß klar und eindeutig sein. Dieses aber ist das Notwendigste: Schon in den ersten Stunden des morgigen Tages sollen alle, die jung und kraftvoll sind, auf den Damlajik hinauf und mit dem Bau der Schanzwerke beginnen. Ich bitte euch daher, mit der Zeit hauszuhalten. Es ist ein Vorteil für uns alle, daß ich schon seit langem alle Fragen unserer Verteidigung durchgearbeitet habe und daher euch meine Vorschläge unterbreiten kann. Ich glaube, daß ihr in dieser Beratung am besten nach derselben Regel verfahrt wie bei euren Gemeindeabstimmungen. Ich bitte nun Ter Haigasun, meine Pläne entwickeln zu dürfen …«
Ter Haigasun schloß, wie es seine Art war, halb die Augen, wodurch sein Gesicht einen müden und gequälten Ausdruck bekam:
»Hören wir Gabriel Bagradian!«
Gabriel glättete die schönste von Awakians Karten:
»Wir werden tausend Aufgaben zu lösen haben, doch wenn wir sie richtig erkennen, so sind alle Einzelheiten nur den beiden Hauptaufgaben untergeordnet. Die erste und heiligste ist der Kampf selbst. Auch die zweite Aufgabe, die innere Verfassung unseres Lebens, dient vor allem dem Kampf. Über ihn will ich nun sprechen …«
Pastor Aram Tomasian winkte mit der Hand, um eine Unterbrechung der Rede bittend:
»Wir wissen alle, daß Gabriel Bagradian als Offizier das Militärische am besten versteht. Die Führung im Kampfe ist sein Amt …«
Alle Arme erhoben sich, um diesen Antrag anzunehmen. Pastor Aram aber war noch nicht zu Ende:
»Gabriel Bagradian hat den Verteidigungsplänen seit langer Zeit seine ganze Kraft gewidmet. Die Vorbereitung des Widerstandes ist in seinen Händen am besten aufgehoben. Doch um zu
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